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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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riesigen Gebläsen in die Stadt Wilnius zu befördern. Trotzdem hat er 1993 bei den Wahlen dreiundzwanzig Prozent der Stimmen erhalten.«
    Suworin konnte diese unheimliche, bestialische Musik keine Sekunde länger ertragen. Er hob die Nadel.
    Sie hörten einen einzelnen Schuß.
    Suworin hielt den Atem an und wartete auf eine antwortende Salve.
    »Vielleicht«, sagte er unsicher, nachdem er sehr lange gewartet hatte, »sollte ich die Armee kommen lassen…«
    »Da draußen sind Fallen«, sagte Kelso.
    »Wie bitte?«
    Suworin war an der Tür und lugte vorsichtig in die Dämmerung hinaus. Dann drehte er sich noch einmal um. Er hatte ein Stück Seil um ihre Handgelenke geschlungen und es an dem kalten Ofen befestigt.
    »Er hat Fallen gelegt. Passen Sie auf, wo Sie hintreten.«
    »Danke.« Suworin setzte seinen Fuß auf die oberste Stufe.
    »Ich komme wieder.«
    Er hatte den Plan – und das war ein gutes Wort, es hörte sich gut an: sein Plan –, zum Schneepflug zurückzukehren und über das Funkgerät Verstärkung anzufordern. Also machte er sich auf den Weg zum Zugang zu der Lichtung, dem einzigen Anhaltspunkt, den er hatte. Obwohl es bereits dunkelte, waren hier noch deutliche Fußspuren zu sehen, denen er folgen konnte, und er mußte ungefähr die Hälfte des Weges zurückgelegt haben, als er die Explosion spürte und im gleichen Moment auch hörte. Vorbeisausender Schnee markierte die Bahn der Druckwelle, die durch den Wald brandete. Von den höheren Ästen lösten sich Kaskaden aus Kristallen und wirbelten ins Leere, und danach hingen winzige Wolken in der Luft, die aussahen wie Atemstöße.
    Er fuhr herum, hielt die Waffe mit beiden Händen, zielte mit ihr sinnloserweise in die Richtung, aus der die Explosion gekommen war.
    Dann geriet er in Panik und begann zu rennen – eine Figur wie aus einem Zeichentrickfilm, eine sich ruckhaft bewegende Marionette –, versuchte, die Knie so hoch anzuheben, wie er konnte, um dem saugenden, klebenden Schnee zu entkommen. Sein Atem kam stoßweise.
    Er war so sehr darauf bedacht, in Bewegung zu bleiben, daß er fast über den ersten Toten gestolpert wäre.
    Es war einer der Soldaten. Er war in ein Falleisen geraten – eine riesige Falle, vielleicht eine Bärenfalle –, so groß und so stark gespannt, daß sich die Backen in den Knochen über seinem Knie gebohrt hatten. Jede Menge Blut war auf dem flachgetretenen Schnee zu sehen, Blut von dem zerschmetterten Bein und Blut von einer großen Kopfwunde, die an der Rückseite der Gesichtshaube klaffte wie ein zweiter Mund.
    Die Leiche des anderen Soldaten lag ein paar Schritte von der des ersten entfernt. Aber im Gegensatz zu diesem lag er auf dem Rücken, mit ausgestreckten Armen und Beinen. Auf seiner Brust stand eine Blutlache.
    Suworin legte seine Waffe hin, zog seine Handschuhe aus und überprüfte bei beiden Männern den Puls – obwohl er wußte, daß es sinnlos war –, zog die Schichten von Kleidung beiseite, um ihre warmen, toten Handgelenke abzutasten.
    Wie hatte er sie beide erwischt? Er schaute sich um.
    Vermutlich so: Er hatte die Falle auf der Piste gelegt, im Schnee vergraben, und dann hatte er sie beide darüber gelockt; der Mann an der Spitze war ihr irgendwie entgangen, der Mann hinter ihm war hineingeraten – das war der Schrei gewesen –, und der vordere Mann hatte kehrtgemacht, um ihm zu helfen, nur um feststellen zu müssen, daß sich der Mann, auf den sie es abgesehen hatten, hinter ihnen befand – das war seine ganze Gerissenheit: Damit hatten sie bestimmt nicht gerechnet. Und so hatte es den vorderen voll in der Brust erwischt, und der Mann in der Falle war daraufhin in aller Ruhe erledigt worden wie bei einer Hinrichtung: mit Genickschuß.
    Und dann hatte er ihre Sturmgewehre genommen.
    Was war das für eine Kreatur?
    Suworin kniete neben dem Kopf des ersten Soldaten nieder und zog ihm die Haube vom Kopf. Er nahm ihm das Hörgerät ab und steckte es sich selbst ins Ohr. Er glaubte, etwas hören zu können. Ein Art Rauschen. Er fand das kleine Mikrophon an der Innenseite des linken Ärmelaufschlags des Toten.
    »Kretow?« flüsterte er. »Kretow?« Aber die einzige Stimme, die er hören konnte, war seine eigene. Dann setzte das Gewehrknattern von neuem ein.
    Das Feuer leuchtete wie ein roter Sonnenuntergang durch die Bäume, und als Suworin auf der Piste angelangt war, konnte er die Hitze des brennenden Schneepflugs spüren, selbst in hundert Metern Entfernung. Der Tank mußte explodiert sein, und das

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