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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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gefesselten Männer – der Amerikaner, O’Brian, hieß der Reporter nicht so? – wollte sich umdrehen und etwas sagen.
    »Ruhe!«, sagte Suworin wütend. Er legte den Sicherungsriegel um und fuchtelte mit der Pistole. »Mund halten und Gesicht zur Wand!«
    Er ließ sich am Tisch nieder und wischte sich mit dem feuchten Ärmel übers Gesicht.
    Total ruiniert…
    Er bemerkte Stalin, der ihn anfunkelte. Er hob das gerahmte Foto mit der freien Hand hoch und drehte es ins Licht. Es war signiert. Und was war all dieses andere Zeug? Pässe, Ausweise, eine Pfeife, alte Schallplatten, ein Umschlag mit ein paar Haaren darin… Es sah aus, als hätte jemand versucht, einen Zaubertrick vorzuführen. Er ließ die Haare in seine Handfläche fallen und rieb sie zwischen Daumen und Zeigefinger. Sie waren trocken, grau, grob, fühlten sich an wie Borsten. Er ließ sie fallen und wischte sich die Hand am Mantel ab. Dann legte er die Pistole auf den Tisch und massierte seine Augen.
    »Sie können sich hinsetzen«, sagte er verdrossen.
    Aus dem Wald kam eine lang anhaltende Gewehrsalve.
    »Wissen Sie«, sagte er traurig zu Kelso, »Sie hätten wirklich mit dieser Maschine abfliegen sollen.«
    »Und was passiert jetzt?« fragte der Engländer. Sie hatten offensichtlich Mühe, sich richtig hinzusetzen. Sie knieten an der Wand. Der Ofen war ausgegangen. Es wurde sehr kalt. Suworin hatte eine der Schallplatten aus ihrer Papierhülle geholt und sie auf den Teller des alten Grammophons gelegt.
    »Das ist eine Überraschung«, sagte er.
    »Ich bin akkreditiertes Mitglied des ausländischen Pressecorps…«, begann O’Brian.
    Auf das Knattern eines Hochgeschwindigkeitsgewehrs folgte ein lauterer Knall.
    »Der amerikanische Botschafter…«, sagte O’Brian.
    Suworin zog das Grammophon sehr schnell auf – alles, um den Lärm von draußen zu übertönen – und setzte die Nadel auf die Platte. Durch einen Hagelsturm von Schüssen hindurch setzte eiernd ein blechernes Orchester ein.
    Weitere Schüsse. Jemand schrie, weit weg, irgendwo zwischen den Bäumen. Zwei Schüsse ganz kurz hintereinander. Das Schreien hörte auf, und O’Brian begann zu winseln. »Sie werden uns erschießen. Sie werden auch uns erschießen!« Er kämpfte gegen den Plastikdraht an und versuchte aufzustehen, aber Suworin setzte dem Amerikaner seinen nassen Schuh auf die Brust und drückte ihn sanft wieder nieder.
    »Lassen Sie uns zumindest versuchen«, sagte er auf englisch, »uns wie zivilisierte Menschen zu benehmen.«
    Das ist auch nicht gerade das, was ich mir für mich erträumt habe, hätte er am liebsten gesagt. Es gehörte nicht zu meinen Lebensträumen, das kann ich Ihnen versichern, in die stinkende Bude eines Wahnsinnigen zu geraten und mitzuhelfen, wenn er wie ein Tier gejagt wird. Unter anderen Umständen würden Sie bestimmt feststellen, daß ich im Grunde ein netter Mensch bin.
    Er versuchte, dem Rhythmus der Musik zu folgen, mit dem Zeigefinger zu dirigieren, aber er konnte den Takt nicht finden, die Melodie schien überhaupt keinen durchgehenden Takt zu haben.
    »Sie hätten besser daran getan, wenn Sie mit einer Armee angerückt wären«, sagte der Engländer, »denn wenn es da draußen nur drei gegen einen steht, haben die drei nicht die geringste Chance.«
    »Unsinn«, sagte Suworin, jetzt ganz Patriot. »Die gehören zu unserer Spezialtruppe. Die kriegen ihn. Tja, und falls erforderlich, werden sie eine Armee anrücken lassen.«
    »Weshalb?«
    »Weil ich für Männer arbeite, Dr. Kelso, die von Angst erfüllt sind; viele von denen sind mit dem Genossen Stalin noch in Berührung gekommen.« Er betrachtete finster das Grammophon. Was für ein Radau. Es hörte sich an wie heulende Hunde. »Wissen Sie, wie Lenin den Zarewitsch genannt hat, als die Bolschewiken über das Schicksal der Zarenfamilie entschieden? Er nannte den Jungen ›das lebende Banner‹. Und es gibt nur eine Möglichkeit, hat Lenin gesagt, mit einem lebenden Banner umzugehen.«
    Kelso schüttelte den Kopf. »Sie verstehen diesen Mann nicht. Glauben Sie mir – Sie hätten ihn sehen müssen –, er ist ein geistesgestörter Verbrecher. Er hat im Laufe der letzten dreißig Jahre vermutlich ein halbes Dutzend Leute umgebracht. Er ist niemandes Banner. Er ist verrückt.«
    »Alle Leute haben gesagt, Schirinowski wäre verrückt, erinnern Sie sich? Seine Außenpolitik gegenüber den baltischen Staaten bestand darin, Atommüll an der Grenze zu Litauen zu vergraben und ihn jede Nacht mit

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