Aurora
das einmal dem Genossen Stalin gehörte.«
»Halten Sie den Mund«, sagte Mamantow.
»Wie bitte?« Kelso warf einen finsteren Blick auf den Hörer.
»Ich habe gesagt, Sie sollen den Mund halten. Ich lasse es mir durch den Kopf gehen. Wo sind Sie?«
»In der Nähe des Intourist-Gebäudes, auf der Mochowaja-Straße.«
Wieder Schweigen am anderen Ende der Leitung.
»Das ist nicht weit von hier«, sagte Mamantow. Und dann sagte er: »Kommen Sie her.«
Er nannte ihm seine Adresse. Dann legte er auf.
Die Leitung war tot. Major Felix Suworin vom russischen Geheimdienst, dem SWR, der in seinem Büro im Vorort Jassenewo im Südosten von Moskau saß, legte den Kopfhörer beiseite und wischte sich die geröteten Ohren mit einem sauberen weißen Taschentuch ab. Auf den vor ihm liegenden Block hatte er geschrieben:
»… ein Notizbuch mit schwarzem Wachspapierumschlag, das einmal dem Genossen Stalin gehörte…«
3. Kapitel
»Konfrontation mit der Vergangenheit«
Ein internationales Symposium über die Archive d er Russischen Föderation
Dienstag, 27. Oktober
Nachmittagssitzung
Doktor Kelso:… Meine Damen und Herren, wann immer ich an Josef Stalin denke, steht mir unbewußt ein Bild besonders deutlich vor Augen. Ich denke an Stalin als einen alten Mann, wie er neben seinem Grammophon steht.
Er pflegte lange zu arbeiten, bis neun oder zehn Uhr abends, und dann in den Vorführraum des Kreml zu gehen, um sich einen Film anzuschauen. Häufig war es einer der Tarzan-Filme aus irgendeinem Grund faszinierte Stalin die Vorstellung von einem Mann, der unter wilden Tieren aufwächst –, und dann fuhren er und seine Genossen aus dem Politbüro zum Essen hinaus zu seiner Datscha in Kunzewo. Nach dem Essen ging er zu seinem Grammophon und legte eine Platte auf. Milovan Djilas zufolge hatte er eine besondere Vorliebe für eine Platte, auf der anstelle von menschlichen Stimmen das Kläffen von Hunden zu hören war. Und dann ließ Stalin das Politbüro tanzen.
Einige Mitglieder waren recht gute Tänzer. Mikojan zum Beispiel konnte hervorragend tanzen. Und Bulganin war auch nicht schlecht; er konnte sich einem Rhythmus anpassen. Aber Chruschtschow war ein miserabler Tänzer – »wie eine Kuh auf dem Eis« –, und für Malenkow und Kaganowitsch galt dasselbe.
Jedenfalls, eines Abends steckte Stalins Tochter Swetlana möglicherweise angelockt von den merkwürdigen Geräuschen erwachsener Männer, die zum Kläffen von Hunden tanzten den Kopf zur Tür herein, und Stalin verlangte von ihr mitzutanzen. Nach einer Weile wurde sie müde, und ihre Füße bewegten sich kaum noch, was Stalin wütend machte. Er brüllte sie an:
»Tanze!« Und sie sagte: »Aber ich habe doch schon getanzt, Papa. Ich bin müde.« Woraufhin Stalin – und hier zitiere ich Chruschtschows Bericht – »sie bei den Haaren packte, ein ganzes Büschel griff, ich meine, sozusagen beim Schopf, und zerrte, verstehen Sie, ganz grob… zerrte und riß und riß.«
Und nun behalten Sie dieses Bild einen Moment im Gedächtnis, und lassen Sie uns das Schicksal von Stalins Angehörigen betrachten. Seine erste Frau starb. Sein ältester Sohn, Jakow, versuchte im Alter von einundzwanzig Jahren, sich selbst zu erschießen, brachte sich aber nur eine schwere Verletzung bei. (Als Stalin ihn sah, hat er, Swetlana zufolge, gelacht. »Ha!« sagte er. »Danebengetroffen! Kann nicht einmal richtig schießen!«) Jakow geriet während des Krieges in deutsche Gefangenschaft, und nachdem Stalin einen Gefangenenaustausch abgelehnt hatte, versuchte sein Sohn noch einmal, Selbstmord zu begehen – diesmal mit Erfolg –, indem er sich gegen den unter Strom stehenden Zaun seines Gefangenenlagers warf.
Stalin hatte noch einen weiteren Sohn, Wassili, einen Alkoholiker, der im Alter von einundvierzig Jahren starb.
Stalins zweite Frau, Nadeschda, weigerte sich, ihrem Mann noch weitere Kinder zu gebären – Swetlana zufolge hat sie mehrmals abgetrieben –, und eines späten Abends, im Alter von einunddreißig Jahren, schoß sie sich eine Kugel in den Kopf. (Oder vielleicht wäre es akkurater zu sagen, daß jemand sie erschoß; ein Abschiedsbrief wurde nie gefunden.)
Nadeschda war eines von vier Geschwistern. Ihr älterer Bruder Pawel wurde von Stalin während der Säuberungen ermordet; auf dem Totenschein war Herzversagen angegeben.
Ihr jüngerer Bruder Fjodor wurde in den Wahnsinn getrieben, als ein Freund Stalins, ein armenischer Bankräuber namens Karno, ihm das herausgeschnittene
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