Aurora
dann klappte er den Deckel auf. Wolkogonow war ein Drei-Sterne-General der Roten Armee mit mächtigen Kontakten im Kreml gewesen. Unter Gorbatschow und Jelzin war ihm spezieller Zugang zu den Archiven gewährt worden, den er dazu benutzt hatte, drei Riesenwälzer zu schreiben – Stalin, Trotzki, Lenin –, jeder revisionistischer als der vorhergehende. Kelso nahm das Buch zur Hand und blätterte es durch bis zum Register, überflog die für Stalins Tod relevanten Stichworte – und einen Moment später hatte er es, da war die Erinnerung, die ihm im Hinterkopf herumgespukt hatte, seit Papu Rapawa in der Moskauer Morgendämmerung verschwunden war.
A. A. Jepischew, der zeitweise Stellvertretender Minister für Staatssicherheit war, erzählte mir, daß Stalin ein in schwarzes Wachspapier eingeschlagenes Notizbuch besaß, in dem er von Zeit zu Zeit etwas notierte, und daß Stalin Briefe von Sinowjew, Kamenew, Bucharin und sogar Trotzki aufbewahrt hatte. Alle Versuche, das Notizbuch oder diese Briefe zu finden, waren vergeblich. Jepischew gab seine Quelle nicht preis.
Jepischew gab seine Quelle nicht preis, aber er hatte, Wolkogonow zufolge, eine Theorie. Er war überzeugt, daß die privaten Papiere Stalins von Lawrenti Berija aus dem Safe im Kreml herausgeholt worden waren, während der Generalsekretär, von seinem Schlaganfall gelähmt, darniederlag.
Berija eilte in den Kreml, wo er, wie man mit einiger Sicherheit vermuten kann, den Safe ausräumte, die persönlichen Papiere des Chefs an sich nahm und mit ihnen vermutlich auch das schwarze Notizbuch… Mit der Vernichtung von Stalins Notizbuch, falls es sich tatsächlich dort befunden haben sollte, hätte Berija sich den Weg für seine Nachfolgerschaft gebahnt. Die Wahrheit wird vielleicht nie ans Licht kommen, aber Jepischew war überzeugt, daß Berija den Safe ausgeräumt hatte, bevor die anderen an ihn herankommen konnten.
Ganz ruhig jetzt, reg dich nicht auf, denn das beweist noch gar nichts, hast du verstanden? Gar nichts. Nicht das geringste.
Aber es macht die Dinge tausendmal wahrscheinlicher. Er zog die schmale Holzschublade auf und durchsuchte sie rasch, bis er die Karteikarten für Jepischew, A. A. (1908-1985) gefunden hatte. Der alte Mann hatte massenhaft Bücher geschrieben, alle gleich langweilig und abgedroschen: Was uns die Geschichte lehrt. Die Lektion des zwanzigsten Jahrestages des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg (1965); Ideologische Kriegführung und militärische Fragen (1974); Wir stehen treu zu den Ideen der Partei (1981)…
Der Kater war verflogen, und an seine Stelle war die vertraute Phase postalkoholischer Euphorie getreten – was, in der Vergangenheit, immer seine produktivste Zeit des Tages gewesen war –, ein Gefühl, das schon allein das Betrinken lohnte. Er rannte die Treppe hinunter und den breiten und düsteren Korridor entlang, der zur Militärabteilung der Lenin-Bibliothek führte. Dabei handelte es sich um ein kleines und in sich abgeschlossenes Areal mit Neonbeleuchtung, in dem man das Gefühl hatte, tief unter der Erde zu sein. Ein junger Mann in einem grauen Pullover lehnte am Tresen und las ein altes Mad- Heft aus den Sechzigern.
»Was haben Sie über einen Mann vom Heer mit Namen Jepischew?« fragte Kelso. »A. A. Jepischew?«
»Wer will das wissen?«
Kelso händigte ihm seinen Leserausweis aus, und der junge Mann betrachtete ihn interessiert.
»He, sind Sie der Kelso, der vor ein paar Jahren das Buch über das Ende der Partei geschrieben hat?«
Kelso zögerte – das konnte so oder so ausgehen –, gab aber schließlich zu, daß er derjenige war. Der junge Mann legte das Comic-Heft beiseite und schüttelte ihm die Hand. »Andrej Efanow. Großartiges Buch! Sie haben den Schweinen wirklich eins übergebraten. Ich werde sehen, was wir dahaben.«
Es gab zwei Nachschlagewerke mit Eintragungen zu Jepischew: die Militär-Enzyklopädie der UdSSR und das Verzeichnis der Helden der Sowjetunion, und beide erzählten so ziemlich dieselbe Geschichte, wenn man zwischen den Zeilen zu lesen verstand, nämlich daß Alexej Alexejewitsch Jepischew ein dick gepanzerter, immer obenauf schwimmender Stalinist der alten Schule gewesen war: Komsomol und Partei-Ausbilder in den Zwanzigern und Dreißigern; Akademie der Roten Armee, 1938; Kommissar der Komintern-Fabrik in Charkow, 1942; Militärberater der Achtunddreißigsten Armee an der ersten ukrainischen Front, 1943; Stellvertretender Volkskommissar für den Bau von
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