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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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etwas darüber hätten erzählen können, was für ein Mensch er war…

4. Kapitel
    Wie sich herausstellte, lag Mamantows Wohnung direkt auf der anderen Seite des Flusses, in dem großen Komplex an der Serafimowitsch-Straße, der allgemein das Haus am Kai genannt wurde. Das war das Gebäude, bei dem der Genosse Stalin mit der für ihn typischen Großzügigkeit darauf bestanden hatte, daß führende Parteimitglieder mit ihren Familien darin Unterkunft bezogen. Es hatte zehn Stockwerke mit fünfundzwanzig separaten Eingängen von der Straße her, und vor jeden von ihnen hatte der Generalsekretär damals voller Umsicht einen NKWD-Mann postiert – im Interesse eurer Sicherheit, Genossen.
    Bis zum Ende der Säuberungen waren sechshundert der Bewohner des Gebäudes liquidiert worden. Jetzt waren die Wohnungen Privateigentum, und die guten, mit Blick über die Moskwa auf den Kreml, kosteten von zwei Millionen Rubel aufwärts. Kelso fragte sich, wie Mamantow sich das leisten konnte.
    Er kam die Treppe von der Brücke herunter und überquerte die Straße. Vor dem Eingang zu Mamantows Treppenhaus stand ein kastenförmiger weißer Lada. Die Fenster waren offen, zwei Männer saßen auf den Vordersitzen und kauten Kaugummi. Einer hatte eine auffällige Narbe, die sich vom Augenwinkel bis fast an den Rand des Munds erstreckte. Als Kelso an ihnen vorbei auf den Eingang zuging, beobachteten sie ihn mit unverhohlenem Interesse.
    Im Treppenhaus hatte jemand neben dem Fahrstuhl fein säuberlich mit Groß und Kleinbuchstaben auf englisch »Fuck Off« geschrieben. Ein Tribut an das russische Bildungssystem, dachte Kelso. Er pfiff nervös eine beliebige Melodie. Der Fahrstuhl glitt reibungslos aufwärts. Kelso stieg im achten Stock aus, wo er das ferne Dröhnen von westlicher Rockmusik hörte.
    Die Außentür von Mamantows Wohnung bestand aus einer Stahlplatte. Jemand hatte mit roter Farbe ein Hakenkreuz auf das Metall gesprüht. Die Farbe war alt und verblichen, aber es war kein Versuch unternommen worden, sie zu entfernen. In die Wand darüber war eine kleine Überwachungskamera eingebaut.
    Das ganze Drum und Dran hatte schon jetzt etwas an sich, was Kelso nicht gefiel – die Sicherheitsvorkehrungen, die Männer im Wagen unten –, und einen Augenblick lang glaubte er fast, den Terror von vor sechzig Jahren zu riechen, als würde die geballte Angst durch das Mauerwerk dringen: die polternden Schritte, die hastigen Abschiede, das Wehklagen, die Stille. Seine Hand verharrte über der Klingel. Wie konnte man nur hier leben?
    Er drückte auf den Knopf.
    Nach einer langen Wartezeit wurde die Tür von einer älteren Frau geöffnet. Frau Mamantowa sah so aus, wie er sie in Erinnerung hatte – groß und breit, nicht fett, aber schwer gebaut. Sie trug ein formloses geblümtes Kleid und machte den Eindruck, als hätte sie gerade geweint. Ihre geröteten Augen richteten sich kurz und wie geistesabwesend auf ihn, aber noch bevor er den Mund aufmachen konnte, war sie wieder davongeschlurft, und plötzlich tauchte Wladimir Mamantow auf und kam die dunkle Diele entlang. Er war gekleidet, als hätte er noch immer ein Büro, in das er gehen mußte – weißes Hemd, blaue Krawatte, schwarzer Anzug mit einem kleinen roten Stern am Revers.
    Er sagte nichts, streckte aber die Hand aus. Er hatte einen zermalmenden Griff, perfektioniert, wie es hieß, durch das Drücken auf Hartgummibälle während KGB-Versammlungen. (Über Mamantow wurde eine Menge geredet, zum Beispiel – und Kelso hatte es in seinem Buch erwähnt – daß bei der berühmten Zusammenkunft in der Lubjanka in der Nacht des 20. August 1991, als den Planern des Putsches klargeworden war, daß das Spiel aus war, Mamantow sich erboten hatte, zu Gorbatschows Datscha in Foros am Schwarzen Meer hinunterzufliegen und den Präsidenten eigenhändig zu erschießen; Mamantow hatte die Geschichte bestritten und als »Provokation« bezeichnet.)
    Ein junger Mann in schwarzem Hemd mit einem Schulterhalfter tauchte hinter Mamantow im Halbdunkel auf.
    »Alles in Ordnung, Viktor«, sagte Mamantow, ohne sich umzudrehen. »Ich kümmere mich um den Herrn.« Mamantow hatte ein Bürokratengesicht – stahlgraues Haar, Stahlbrille und Hängebacken wie ein argwöhnischer Hund. Man konnte ihm hundertmal auf der Straße begegnen, ohne daß er einem auffiel. Aber seine Augen funkelten die Augen eines Fanatikers, dachte Kelso; er konnte sich vorstellen, daß Eichmann oder andere nationalsozialistische

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