Aurora
Herz eines Menschen in die Hand drückte. Ihre Schwester Anna wurde auf Stalins Befehl hin verhaftet und zu zehn Jahren Einzelhaft verurteilt. Als sie herauskam, hat sie nicht einmal mehr die eigenen Kinder wiedererkannt. Das war die eine Gruppe von Stalins Verwandten.
Und was wurde aus der anderen Gruppe? Nun, da gab es Alexander Swanidse, den Bruder von Stalins erster Frau – er w urde 1937 verhaftet und 1941 erschossen. Und da gab es Swanidses Frau Maria, die gleichfalls verhaftet wurde, sie wurde 1942 erschossen. Ihr kleiner Sohn Iwan – Stalins Neffe – wurde ins Exil geschickt, in ein schreckliches staatliches Waisenhaus für die Kinder von »Staatsfeinden«, und als er fast zwanzig Jahre später wieder herauskam, hatte er schwere psychische Schäden davongetragen. Und schließlich war da noch Stalins Schwägerin Maria – auch sie wurde 1937 verhaftet und starb unter mysteriösen Umständen im Gefängnis.
Und nun lassen Sie uns zu dem Bild von Swetlana zurückkehren. Ihre Mutter ist tot. Ihr Halbbruder ist tot. Ihr anderer Bruder ist Alkoholiker. Zwei Onkel sind tot, und einer ist geistesgestört. Zwei Tanten sind tot, und eine ist im Gefängnis. Sie wird von ihrem Vater an den Haaren gezerrt, in einem Zimmer mit den mächtigsten Männern Rußlands, die alle zum Tanzen gezwungen werden, vielleicht zum Geräusch kläffender Hunde.
Kollegen, wann immer ich in einem Archiv sitze oder, in letzter Zeit seltener, an einem Symposium wie diesem teilnehme, dann versuche ich stets, mir diese Szene wieder ins Gedächtnis zu rufen, weil sie mich daran erinnert, daß man sich davor hüten muß, die Vergangenheit in eine rationale Struktur zu zwängen. In den Archiven hier findet sich nichts, was darauf hinweist, daß der Stellvertretende Ministerpräsident oder der Außenminister, wenn sie ihre Entscheidungen trafen, sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten konnten und vermutlich entsetzliche Angst hatten, daß sie bis drei Uhr morgens aufgewesen waren und um ihr Leben getanzt hatten, und wußten, daß sie in der folgenden Nacht vermutlich wieder würden tanzen müssen.
Ich will damit nicht sagen, daß Stalin verrückt war. Ganz im Gegenteil. Man könnte argumentieren, daß der Mann, der das Grammophon bediente, die geistig gesündeste Person im Zimmer war. Als Swetlana ihn fragte, weshalb ihre Tante Anna in Einzelhaft gehalten wurde, antwortete er: »Weil sie zuviel redet.« Bei Stalin steckte gewöhnlich eine Logik hinter seinem Tun. Er brauchte keinen englischen Philosophen aus dem sechzehnten Jahrhundert, der ihm sagte: »Wissen ist Macht.« Diese Erkenntnis ist die Quintessenz des Stalinismus. Unter anderem erklärt sie, weshalb Stalin so viele nahe Verwandte und enge Mitstreiter ermordet hat – er wollte alle vernichten, die ihn aus erster Hand kannten.
Und dieses Vorgehen, das müssen wir zugeben, war bemerkenswert erfolgreich. Wir haben uns hier – fünfundvierzig Jahre nach Stalins Tod – in Moskau versammelt, um über die jüngst zugänglich gemachten Archive der Sowjetära zu diskutieren. Über unseren Köpfen, in feuersicheren Räumen, befinden sich, bei einer konstanten Temperatur von achtzehn Grad Celsius und sechzig Prozent Luftfeuchtigkeit gelagert, anderthalb Millionen Akten – das gesamte Archiv des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion.
Aber wieviel verrät dieses Archiv uns über Stalin? Was können wir heute erfahren, was wir nicht erfahren konnten, solange die Kommunisten noch an der Macht waren? Stalins Briefe an Molotow – die können wir einsehen, und sie sind recht interessant. Aber sie sind ganz offensichtlich gründlich zensiert worden. Und nicht nur das: Sie enden im Jahre 1936, genau zu dem Zeitpunkt, an dem das Morden erst richtig begann.
Wir können auch die Todeslisten einsehen, die Stalin unterschrieben hat. Und wir haben seine Terminkalender. Also wissen wir, daß Stalin am 8. Dezember 1938 dreißig Todeslisten unterschrieben hat, auf denen fünftausend Namen standen, darunter die von vielen seiner sogenannten Freunde. Und wir wissen auch, dank seinem Terminkalender, daß er am gleichen Abend in den Vorführraum des Kreml ging und sich diesmal keinen Tarzan-Film aussah, sondern eine Komödie mit dem Titel Glückliche Burschen.
Und zwischen diesen beiden Ereignissen, zwischen dem Töten und dem Gelächter, liegt – was? Wer? Wir wissen es nicht. Und warum nicht? Weil Stalin es darauf angelegt hat, fast sämtliche Leute zu ermorden, die uns
Weitere Kostenlose Bücher