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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Schreibtischtäter genau solche Augen gehabt hatten. Am anderen Ende der Wohnung hatte die alte Frau angefangen, ein seltsam heulendes Geräusch von sich zu geben, und Mamantow wies Viktor an, zu ihr zu gehen und sie zu beruhigen.
    »Sie gehören also zu der Horde von Dieben«, sagte er zu Kelso.
    »Wie bitte?«
    »Das Symposium. Die Prawda hat eine Liste der ausländischen Historiker veröffentlicht, die daran teilnehmen. Ihr Name war dabei.«
    »Historiker kann man kaum als Diebe bezeichnen, Genosse Mamantow. Nicht einmal ausländische Historiker.«
    »Nein? Für eine Nation ist nichts wichtiger als ihre Geschichte. Sie ist der Humus, auf der jede Gesellschaft ruht. Unsere ist uns gestohlen worden – verstümmelt und angeschwärzt durch die Verleumdungen unserer Feinde, bis das Volk die Orientierung verloren hat.«
    Kelso lächelte. Mamantow hatte sich überhaupt nicht verändert. »Das können Sie doch nicht ernsthaft glauben.«
    »Sie sind kein Russe. Stellen Sie sich vor, Ihr Land würde sich erbieten, sein Nationalarchiv für ein paar Millionen Dollar an eine ausländische Macht zu verkaufen.«
    »Sie verkaufen Ihr Archiv nicht. Es ist lediglich geplant, die Dokumente auf Mikrofilm zu übertragen, um sie Wissenschaftlern zugänglich zu machen.«
    »Wissenschaftlern in Kalifornien«, sagte Mamantow, als gäbe das den Ausschlag. »Aber wir vertrödeln unsere Zeit. Ich habe noch eine wichtige Verabredung.« Er sah auf die Uhr. »Ich kann nur fünf Minuten erübrigen, also kommen Sie zur Sache. Was soll diese Geschichte über Stalins Notizbuch?«
    »Es hat mit einer Recherche zu tun, die ich gerade anstelle.«
    »Einer Recherche? Einer Recherche worüber?«
    Kelso zögerte. »Über die Umstände von Stalins Tod.«
    »Fahren Sie fort.«
    »Wenn ich Ihnen ein paar Fragen stellen dürfte, dann könnte ich Ihnen vielleicht erklären, welche Relevanz…«
    »Nein«, sagte Mamantow. »Machen wird es andersherum. Sie erzählen mir von dem Notizbuch, und danach werde ich vielleicht Ihre Fragen beantworten.«
    »Sie werden meine Fragen nur vielleicht beantworten?« Mamantow sah abermals auf die Uhr. »Vier Minuten.«
    »Also gut«, sagte Kelso rasch. »Sie erinnern sich an die offizielle Stalin-Biographie von Dmitri Wolkogonow?«
    »Dem Verräter Wolkogonow? Sie verschwenden meine Zeit. Dieses Buch ist der letzte Dreck.«
    »Sie haben es gelesen?«
    »Natürlich nicht. In der Welt gibt es auch so schon genügend Schmutz. Da muß ich nicht auch noch freiwillig hineinspringen.«
    »Wolkogonow behauptet, daß Stalin in seinem Safe im Kreml bestimmte Papiere aufbewahrt hat – Privatpapiere, darunter auch ein in schwarzes Wachspapier eingebundenes Notizbuch – und daß diese Papiere von Berija gestohlen wurden. Sein Informant war ein Mann, der Ihnen bekannt sein dürfte – Alexej Alexejewitsch Jepischew.«
    Mamantows harte graue Augen zuckten leicht – ein kurzes Flackern, nicht mehr. Er hat davon gehört, dachte Kelso, er weiß über das Notizbuch Bescheid.
    »Und?«
    »Und ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht auch auf diese Geschichte gestoßen sind, als Sie Ihren Artikel über Jepischew für das Handbuch geschrieben haben. Ich nehme an, er war ein Freund von Ihnen, oder?«
    »Was geht Sie das an?« Mamantow warf einen Blick auf Kelsos Tasche. »Haben Sie das Notizbuch gefunden?«
    »Nein.«
    »Aber Sie kennen jemanden, der wissen könnte, wo es sich befindet?«
    »Jemand hat mich aufgesucht«, begann Kelso, doch dann verstummte er. In der Wohnung war es jetzt sehr still. Die alte Frau heulte nicht mehr, aber der Leibwächter war nicht zurückgekehrt. Auf dem Dielentisch lag ein Exemplar der Aurora.
    Kelso wurde bewußt, daß niemand in Moskau eine Ahnung hatte, wo er sich momentan befand. Er war von der Landkarte verschwunden.
    »Ich verschwende Ihre Zeit«, sagte er. »Vielleicht darf ich wiederkommen, wenn ich…«
    »Das ist nicht nötig«, sagte Mamantow etwas umgänglicher.
    Seine scharfen Augen musterten Kelso von Kopf bis Fuß – wanderten über sein Gesicht, seine Hände, schätzten die Kraft seiner Arme und die Muskeln seines Brustkorbs ab, kehrten zu seinem Gesicht zurück.
    Seine Gesprächstechnik ist purer Leninismus, dachte Kelso.
    »Stich mit dem Bajonett zu. Wenn es auf eine Fettschicht trifft, stoß es tiefer hinein. Wenn es auf Eisen trifft, zieh es zurück, und versuch es später noch einmal.«
    »Wissen Sie was, Dr. Kelso – ich werde Ihnen etwas zeigen. Es wird Sie interessieren. Und dann werde

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