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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Mittelmaschinen, gleichfalls 1943…
    »Was sind ›Mittelmaschinen‹?« fragte Efanow, der Kelso über die Schulter in die Bücher schaute. Wie sich herausstellte, hatte Efanow seinen Militärdienst in Litauen abgeleistet – zwei Jahre Hölle – und war dann in der kommunistischen Zeit nicht zum Studium an der Moskauer Universität zugelassen worden, weil er Jude war. Jetzt bereitete es ihm ein riesiges Vergnügen, einen Blick in Staub und Asche von Jepischews Karriere zu werfen.
    »Das war der Codename für das sowjetische Atombomben-Programm«, sagte Kelso. »Berijas Lieblingsprojekt.« Berija. Er machte sich eine Notiz.
    …Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Ukraine, 1946…
    »Das war, als sie die Ukraine von Kollaborateuren säuberten, nach dem Krieg«, sagte Efanow. »Eine blutige Zeit.«
    …Erster Sekretär des Regionalen Parteikomitees von Odessa, 1950; Stellvertretender Minister für Staatssicherheit, 1951…
    Stellvertretender Minister…
    Jede Eintragung war mit dem gleichen offiziellen Foto von Jepischew illustriert. Kelso betrachtete wiederholt den kantigen Unterkiefer, die dicken Brauen, das finstere Gesicht über dem Boxernacken.
    »Oh, er war ein massiger Kerl, ein ganz schwerer Brocken…«
    »Erwischt«, flüsterte Kelso.
    Nach Stalins Tod war es mit Jepischews Karriere abwärtsgegangen. Zuerst war er nach Odessa zurückgeschickt und dann ins Ausland verfrachtet worden: Botschafter in Rumänien, 1955-1961; Botschafter in Jugoslawien, 1961-1962. Und dann, endlich, der lange erwartete Rückruf nach Moskau als Leiter der Politischen Zentralabteilung der Bewaffneten Streitkräfte – ihr ideologischer Kommissar –, eine Stellung, die er die nächsten dreiundzwanzig Jahre innehatte. Und wer war sein Stellvertreter gewesen? Kein anderer als Dmitri Wolkogonow, Drei-Sterne-General und künftiger Stalin-Biograph.
    Um an diese bruchstückhaften, harten Informationen zu gelangen, mußte er sich durch einen Wust aus Floskeln und Parteijargon hindurch wühlen, in dem Jepischew hoch gepriesen wurde wegen »seiner wichtigen Rolle beim Formen der erforderlichen politischen Einstellung und der Durchsetzung des Marxismus-Leninismus in den Streitkräften, beim Stärken der militärischen Disziplin und Fördern der ideologischen Bereitschaft«. Er war im Alter von siebenundsiebzig Jahren gestorben. Wolkogonow war, wie Kelso wußte, zehn Jahre später gestorben.
    Am Ende der Eintragung stand die Liste von Jepischews Auszeichnungen und Medaillen: Held der Sowjetunion, Gewinner des Lenin-Preises, Träger von vier Lenin-Orden, dem Orden der Oktober-Revolution, vier Orden des Roten Banners, zwei Orden des Großen Vaterländischen Krieges (Erster Klasse), drei Orden des Roten Sterns, dem Orden für Vaterländische Verdienste…
    »Ein Wunder, daß er damit überhaupt noch aufrecht stehen konnte.«
    »Und ich wette, daß er nie auch nur einen Schuß auf irgend jemanden abgegeben hat«, murmelte Efanow, »außer auf die eigenen Leute. Also was ist so interessant an Jepischew, wenn Sie die Frage gestatten?«
    »Was ist das hier?« fragte Kelso. Er deutete auf eine Zeile unterhalb der Eintragung. »W. P. Mamantow.«
    »Er ist der Verfasser des Artikels.«
    »Der Artikel über Jepischew wurde von Mamantow geschrieben? Wladimir Mamantow? Dem KGB-Mann?«
    »Sieht so aus. Na und? Zwei vom gleichen Kaliber, wenn Sie mich fragen. Weshalb interessiert Sie das? Kennen Sie ihn?«
    »Kennen wäre zuviel gesagt. Ich bin ihm einmal begegnet.« Kelso runzelte die Stirn. »Seine Leute waren bei der Demonstration dabei… heute morgen…«
    »Ach die, die demonstrieren doch immer. Wann sind Sie ihm begegnet?«
    Kelso schlug sein Filofax auf und blätterte darin. »Das muß vor ungefähr fünf Jahren gewesen sein. Als ich für mein Buch über die Partei recherchiert habe.«
    Wladimir Mamantow. Mein Gott, er hatte seit einem halben Jahrzehnt nicht mehr an Mamantow gedacht, und plötzlich war er wieder da, kreuzte an einem Vormittag gleich zweimal seinen Weg. Die Jahre glitten ihm durch die Finger- 1995, 1994… Jetzt erinnerte er sich auch an Einzelheiten ihres Zusammentreffens: ein Vormittag im Spätfrühling, ein toter Hund, der im schmelzenden Schnee vor einer Mietskaserne am Stadtrand zum Vorschein kam, ein Drachen von einer Frau. Wladimir Mamantow hatte wegen seiner Beteiligung am Putschversuch gegen Gorbatschow gerade vierzehn Monate im Lefortowo-Gefängnis abgesessen, und Kelso war der erste gewesen, der

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