Aurora
sie enthalten Zeichnungen – Kritzeleien, sollte ich vielleicht besser sagen – in Rotstift. Dasselbe Bild, immer und immer wieder, sehen Sie?«
»Was soll das sein?« O’Brian ging mit laufender Kamera auf Nahaufnahme. »Sieht aus wie Wölfe.«
»Es sind Wölfe. Die Köpfe von Wölfen. Stalin hat oft Wölfe auf die Ränder von offiziellen Dokumenten gezeichnet, wenn er nachdachte.«
»Sie halten es also für echt?«
»Solange es nicht von Experten untersucht worden ist, gebe ich darüber kein Urteil ab. Tut mir leid. Jedenfalls kein offizielles.«
»Dann eben inoffiziell – bis auf weiteres –, was halten Sie davon?«
»Na ja, es ist echt«, sagte Kelso, ohne zu zögern. »Darauf würde ich mein Leben verwetten.«
O’Brian schaltete die Kamera aus.
Inzwischen hatten sie die Garage verlassen und saßen im Moskauer Büro des Satellite News System, das in der obersten Etage eines zehnstöckigen Bürohauses südlich des Olympiastadions untergebracht war. Eine Glaswand trennte O’Brians Zimmer vom eigentlichen Produktionsbüro, in dem eine Sekretärin reglos vor einem Computermonitor saß. Neben ihr zeigte ein stummer, auf SNS eingestellter Fernseher Ausschnitte aus den Baseball-Spielen des vorausgegangenen Abends. Durch ein Oberlicht konnte Kelso eine große Satellitenschüssel sehen; sie sah aus wie ein Kollektenteller, den man den dicken Moskauer Wolken hinhielt.
»Und wie lange wird es dauern, bis dieses Zeug überprüft worden ist?« sagte O’Brian.
»Vielleicht zwei, drei Wochen«, sagte Kelso. »Oder auch einen Monat.«
»Ausgeschlossen«, sagte O’Brian. »Wir können unmöglich so lange warten.«
»Überlegen Sie doch. Erstens gehört dieses gesamte Material im Prinzip der russischen Regierung. Oder Stalins Erben. Oder sonst jemandem. Auf jeden Fall gehört es nicht uns – wenn schon, dann vielleicht Sinaida.«
Sinaida stand am Fenster und schaute durch einen Spalt in der Jalousie hinaus, den sie mit den Fingern offenhielt. Bei der Erwähnung ihres Namens warf sie einen kurzen Blick in Kelsos Richtung. Sie hatte in der letzten Stunde kaum ein Wort gesagt – nicht, während sie noch in der Garage waren, nicht einmal, während sie quer durch Moskau hinter O’Brian herfuhren.
»Deshalb ist es hier nicht sicher«, fuhr Kelso fort. »Wir müssen es aus dem Land schaffen. Das hat höchste Priorität. Gott weiß, wer jetzt da hinterher ist. Meiner Ansicht nach ist es schon verdammt gefährlich, daß wir uns im selben Zimmer mit dem Notizbuch befinden. Die Tests selbst die können überall gemacht werden. Ich kenne ein paar Leute in Oxford, die die Tinte und das Papier überprüfen könnten. Es gibt Dokumentensachverständige in Deutschland, in der Schweiz…« O’Brian schien nicht zuzuhören. Er hatte seinen langen Körper in seinem Sessel ausgestreckt, die Füße auf den Schreibtisch gelegt und die Hände hinter dem Kopf verschränkt.
»Wissen Sie, was wir wirklich tun sollten?« murmelte er. »Wir müssen das Mädchen finden.«
Kelso starrte ihn einen Moment an. »Das Mädchen finden? Was soll der Unsinn? Es gibt überhaupt kein Mädchen. Das Mädchen ist inzwischen längst tot.«
»Das ist nicht gesagt. Sie wäre jetzt erst – wie alt? – in den Sechzigern?«
»Sie wäre sechsundsechzig. Aber darum geht es nicht. Sie wäre nicht an Altersschwäche gestorben. Was glauben Sie denn, mit wem sie sich da eingelassen hat? Einem Märchenprinzen? Danach hat sie bestimmt nicht glücklich weitergelebt.«
»Vielleicht nicht, aber wir müssen trotzdem herausfinden, was mit ihr passiert ist. Was mit ihren Angehörigen passiert ist. Menschliche Schicksale. Das ist die Story.«
Die Wand hinter O’Brian war mit Fotos bepflastert: O’Brian mit Jassir Arafat, O’Brian mit Gerry Adams, O’Brian in einer Militärjacke neben einem Massengrab irgendwo auf dem Balkan, und ein weiteres Bild, auf dem er sich in Schutzkleidung mit der Prinzessin von Wales den Weg durch ein Minenfeld bahnte. O’Brian im Smoking bei der Entgegennahme einer Auszeichnung – vielleicht lediglich für seine Genialität, einfach O’Brian zu sein? Lobende Erwähnungen von O’Brian. Artikel über O’Brian. Ein Telegramm vom Generaldirektor von SNS voller Lob für O’Brian wegen seines »unermüdlichen Bestrebens, unsere Konkurrenten zu überflügeln«. Zum ersten Mal und viel zu spät bekam Kelso eine Vorstellung vom Ehrgeiz dieses Mannes.
»Nichts«, sagte Kelso sehr entschlossen, damit kein Raum für Mißverständnisse
Weitere Kostenlose Bücher