Aurora
blieb, »nichts wird publik gemacht, bevor dieses Material außer Landes geschafft und von Sachverständigen geprüft worden ist. Haben Sie verstanden? Das war abgemacht.«
O’Brian schnippte mit den Fingern. »Ja, ja, ja. Aber inzwischen sollten wir trotzdem herausfinden, was mit dem Mädchen passiert ist. Das sollten wir auf alle Fälle tun. Wenn wir mit dem Notizbuch auf Sendung gehen, bevor wir herausgefunden haben, was mit Anna passiert ist, dann wird jemand anders auftauchen und sich den besten Teil der Story unter den Nagel reißen.« Er nahm die Füße vom Schreibtisch und wirbelte seinen Sessel so weit herum, daß er ein Bücherregal neben seinem Schreibtisch erreichen konnte. »Wo zum Teufel liegt Archangelsk überhaupt?«
Es passierte mit einer Art unerbittlicher Logik, so daß Kelso später, als er die Zeit hatte, sein Tun zu überdenken, trotzdem nie den exakten Augenblick bestimmen konnte, an dem er die Sache hätte stoppen, die Ereignisse in eine andere Bahn hätte lenken können…
»›Archangelsk«, las O’Brian laut aus einem Reiseführer vor.
»›Nordrussische Hafenstadt. Vierhunderttausend Einwohner. An der Dwina gelegen, fünfzig Kilometer stromaufwärts vom Weißen Meer. Haupterwerbszweige: Holzverarbeitung, Schiffbau und Fischerei. Von Ende Oktober bis Anfang April ist Archangelsk eingeschneit‹. Mist. Welches Datum haben wir heute?«
»Heute ist der 29. Oktober.«
O’Brian griff nach dem Telefon und tippte eine Nummer. Von seinem Platz auf dem Sofa aus beobachtete Kelso durch die dicke Glaswand hindurch, wie die Sekretärin lautlos nach dem Hörer griff.
»Bitte tun Sie mir einen Gefallen, Schätzchen«, sagte O’Brian. »Rufen Sie unsere Wetterzentrale in Florida an und lassen Sie sich die neueste Wettervorhersage für Archangelsk geben.« Er buchstabierte den Namen. »Richtig. So schnell wie möglich.«
Kelso schloß die Augen.
Der entscheidende Punkt war – das spürte er in seinem Innersten –, daß O’Brian recht hatte. Das Mädchen war die Story. Und die Story konnte nicht in Moskau weiterverfolgt werden. Wenn man überhaupt irgendwo die Spur aufnehmen konnte, dann nur im Norden, in ihrer Heimat, wo die Möglichkeit bestand, daß dort noch Angehörige oder Freundinnen lebten, die sich an sie erinnerten; sich an die 19jährige Komsomolzin erinnerten und die dramatischen Umstände ihrer Reise nach Moskau im Sommer 1951…
»›Die Siedlung Archangelsk‹«, fuhr O’Brian fort, »›wurde von Peter dem Großen ausgebaut und erhielt seinen Namen nach dem Erzengel Michael, dem Drachentöter. Siehe Offenbarung, Kapitel zwölf, Vers sieben und acht: ›Und es erhob sich ein Streit im Himmel: Michael und seine Engel stritten mit dem Drachen, und der Drache stritt und seine Engel, und siegten nicht.‹ In den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts… ‹«
»Müssen wir uns das wirklich anhören?« Aber O’Brian hob einen Finger.
»›… in den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts verbannte Stalin zwei Millionen ukrainische Kulaken in die Oblast Archangelsk, ein mit Wald und Tundra bedecktes Gebiet, das größer ist als ganz Frankreich. Nach dem Krieg wurde dieses Gebiet zum Testen von Atomwaffen benutzt. Der Archangelsk vorgelagerte Hafen ist Sewerodwinsk, das Zentrum des russischen Baus von Atom-U-Booten. Bis zum Sturz des Kommunismus war Archangelsk eine geschlossene Stadt, für alle Besucher von außen gesperrt. Tip für Reisende‹«, beschloß O’Brian seinen Vortrag.
»›Wenn Sie am Bahnhof von Archangelsk ankommen, vergessen Sie nicht, einen Blick auf den digitalen Strahlungsmesser zu werfen – wenn er 15 Mikro-Rad oder weniger anzeigt, besteht keine Gefahr.‹« Er klappte vergnügt das Buch zu. »Hört sich an, als wäre es eine tolle Stadt. Was meinen Sie? Machen Sie mit?«
Ich sitze in der Falle, dachte Kelso. Ich bin ein Opfer der historischen Unausweichlichkeit. Dem Genossen Stalin hätte das gefallen.
»Sie wissen, daß ich kein Geld habe…?«
»Ich leihe Ihnen welches.«
»Keine Winterkleidung…«
»Die bekommen Sie von uns.«
»Kein Visum…«
»Nicht der Rede wert.«
»Nicht der Rede wert?«
»Keine Ausflüchte, Fluke. Sie sind der Stalin-Experte. Ich brauche Sie.«
»Das ist wirklich rührend. Und wenn ich nein sage, fahren Sie vermutlich trotzdem.«
O’Brian grinste. Das Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ab, lauschte, machte sich ein paar Notizen. Als er den Hörer wieder auf die Gabel gelegt hatte, runzelte er die Stirn, und in
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