Aurora
Moment (es ist nach zehn): das Geräusch von Wagen.
14.6.51
Letzte Nacht. Es war spät. Ich bin mit Waletschka in der Küche, als Losgatschew, einer der Wachleute, atemlos hereingestürzt kommt und sagt, der Chef habe keinen Ararat mehr. Waletschka holt eine Flasche, aber anstatt sie Losgatschew zu geben, gibt sie sie mir: »Anna soll sie hineinbringen.« Sie will mir helfen – liebe Waletschka! Also geleitet Losgatschew mich den Korridor entlang in den Hauptteil des Hauses. Ich kann Männerstimmen hören. Gelächter. Losgatschew klopft laut an und tritt beiseite. Ich gehe hinein. Das Zimmer ist heiß, stickig. Sieben oder acht Männer sitzen an einem Tisch – die Gesichter sind mir alle vertraut. Einer - Genosse Chruschtschow, glaube ich – ist auf den Beinen und bringt einen Toast aus. Sein Gesicht ist gerötet, schweißnaß. Er bricht ab. Überall liegt Essen herum, als hätten sie sich damit beworfen. Alle sehen mich an. Genosse Stalin sitzt am Kopfende des Tisches. Ich stelle den Weinbrand vor ihn hin. Seine Stimme ist sanft und freundlich. »Und wie ist Ihr Name, junge Genossin?« sagt er. -»Anna Safanowa, Genosse Stalin.« Ich denke daran, ihm in die Augen zu schauen. Sie sind unergründlich. Der Mann neben ihm sagt: »Sie kommt aus Archangelsk, Chef.« Und Genosse Chruschtschow sagt:
»Lawrenti weiß immer, wo jemand herkommt!« Noch mehr Gelächter. »Kümmern Sie sich nicht um diese groben Kerle«, sagt Genosse Stalin. »Danke, Anna Safanowa.« Sobald ich die Tür zugemacht habe, reden sie weiter. Waletschka wartet am Ende des Korridors auf mich. Sie legt einen Arm um mich, und wir kehren in die Küche zurück. Ich zittere, es muß vor Freude sein.
16.6.51
Genosse Stalin hat gesagt, von jetzt ab soll ich ihm sein Frühstück bringen.
21.6.51
Heute morgen ist er wie üblich im Garten. Wie ich mir wünsche, daß die Leute ihn dort sehen könnten! Er liebt es, dem Gesang der Vögel zu lauschen, sich um die Blumen zu kümmern. Aber seine Hände zittern. Als ich das Tablett abstelle, höre ich ihn fluchen. Er hat sich geschnitten. Ich nehme die Serviette und gehe damit zu ihm. Zuerst mustert er mich argwöhnisch. Dann streckt er mir die Hand entgegen. Ich wickele das weiße Leinen darum. Helle Blutstropfen sickern hindurch. »Sie haben keine Angst vor dem Genossen Stalin, Anna Safanowa?« – »Weshalb sollte ich Angst vor Ihnen haben, Genosse Stalin?« – »Die Ärzte haben Angst vor dem Genossen Stalin. Wenn sie kommen, um am Genossen Stalin einen Verband zu wechseln, dann zittern ihre Hände so sehr, daß er es selbst tun muß. Ah, aber wenn ihre Hände nicht zittern würden – was hätte das zu bedeuten? Danke, Anna Safanowa.«
Oh, Mama und Papa, er ist so einsam! Ihr würdet ihn sofort ins Herz schließen. Er ist schließlich ein Mensch aus Fleisch und Blut, genau wie wir. Und er wirkt so alt, wenn man ihn aus der Nähe sieht. Viel älter, als er auf seinen Bildern aussieht. Sein Bart ist grau und an der Unterseite von Pfeifenrauch gelb verfärbt. Er hat kaum noch Zähne. Wenn er atmet, rasselt es in seiner Brust. Ich habe Angst um ihn. Um uns alle.
30.6.51
Drei Uhr nachts. Jemand klopft an meine Tür, Waletschka steht davor, in ihrem Nachthemd, mit einer Taschenlampe. Er war draußen im Garten, hat im Mondschein mit der Gartenschere gearbeitet und sich wieder geschnitten! Er verlangt nach mir! Ich ziehe mich schnell an und folge ihr den Korridor entlang. Es ist eine warme Nacht. Wir gehen durch den Speisesaal in seine Privaträume. Er hat drei Zimmer und wechselt zwischen ihnen ab, verbringt eine Nacht in dem einen und die nächste in einem anderen. Niemand weiß genau, wo er sich aufhält. Er schläft unter einem Laken auf einem Sofa. Waletschka läßt uns allein. Er sitzt auf dem Sofa und streckt mir die Hand entgegen. Es ist nur ein kleiner Kratzer. Ich brauche nur eine halbe Minute, um ihn mit meinem Taschentuch zu verbinden. »Die furchtlose Anna Safanowa…«
Ich spüre, daß er will, daß ich bleibe. Er erkundigt sich nach meinem Zuhause und meinen Eltern, nach meiner Parteiarbeit, meinen Zukunftsplänen. Ich erzähle ihm, daß ich gern Jura studieren würde. Er schnaubt: Er hält nicht viel von Anwälten! Er will wissen, wie es in Archangelsk im Winter aussieht. Ob ich schon einmal das Nordlicht gesehen habe? (Natürlich!) Wann der erste Schnee kommt? Ende September, sage ich, und Ende Oktober ist die Stadt vollständig eingeschneit, und nur die Züge kommen noch
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