Aurora
seine Schlichtheit jubeln!)
Ich werde an der Seitenfront des Hauses entlang zur Rückseite gebracht. Ein Dienstbotenflügel, durch einen langen Korridor mit dem Hauptgebäude verbunden. Hier in der Küche wartet eine Frau auf mich. Sie ist grauhaarig, ziemlich alt. Und freundlich. Sie nennt mich »Kind«. Ihr Name ist Waletschka Istomina. Eine einfache Mahlzeit ist vorbereitet – kalter Braten und Brot, marinierte Heringe, Kwaß. Sie beobachtet mich. (Hier beobachtet jeder jeden: Es ist ein merkwürdiges Gefühl, wenn man aufschaut und feststellt, daß ein Paar Augen einen mustert.) Von Zeit zu Zeit erscheinen Wachleute, um mich in Augenschein zu nehmen. Sie reden nicht viel, aber wenn sie etwas sagen, hören sie sich wie Georgier an. Einer fragt: »Sagen Sie, Waletschka, wie war die Laune vom Chef heute morgen?«, aber Waletschka bringt ihn rasch zum Schweigen und verweist mit einem Kopfnicken auf mich.
Ich bin nicht so töricht, daß ich Fragen stellen würde. Noch nicht.
»Morgen werden wir miteinander reden«, sagt Waletschka.
»Jetzt gehst du schlafen.«
Ich habe ein Zimmer für mich allein. Das Mädchen, das es vorher bewohnt hat, ist ausgezogen. Zwei einfache schwarze Blusen und Röcke sind für mich zurückgelassen worden.
Ich habe Aussicht auf eine Ecke des Rasens, ein winziges Sommerhaus und den Wald. Die Vögel singen an diesem frühen Sommerabend. Alles wirkt so friedlich. Aber alle paar Minuten geht ein Wachmann am Fenster vorbei.
Ich liege in der Hitze auf meinem kleinen Bett und versuche zu schlafen. Ich denke an Archangelsk im Winter: die bunten Laternen, die über dem zugefrorenen Fluß hängen, Schlittschuhlaufen auf der Dwina, das nächtliche Geräusch berstenden Eises, Pilze suchen im Wald. Ich wollte, ich wäre zu Hause. Aber das sind törichte Gedanken.
Ich muß schlafen.
Warum hat mich der Mann im Zug die ganze Zeit beobachtet? Später: Im Dunkeln das Geräusch von Wagen. Er ist heimgekommen.
12.6.51
Was für ein Tag! Ich kann es kaum hinschreiben, so sehr zittern meine Hände. (In dem Moment haben sie es nicht getan, aber jetzt!) Um sieben gehe ich in die Küche. Waletschka ist gerade dabei, ein Durcheinander aus zerbrochenem Geschirr und Glas und Essensresten zu sortieren, das in einem Haufen auf der Mitte einer großen Tischdecke liegt. Sie erklärt mir, wie jede Nacht der Tisch abgeräumt wird: Zwei Wachleute ergreifen jeweils zwei Ecken der Tischdecke und tragen alles hinaus! Deshalb besteht unsere erste Aufgabe morgens darin, alles zu retten, was nicht zerbrochen ist, und es zu spülen. Während wir arbeiten, macht Waletschka mich mit den Aufgaben im Haus vertraut. Er steht ziemlich spät auf und arbeitet manchmal gern im Garten. Dann fährt er in den Kreml, und seine Zimmer werden saubergemacht. Er kehrt nie vor neun oder zehn Uhr abends zurück, dann wird gespeist. Gegen zwei oder drei Uhr geht er zu Bett. So läuft es an sieben Tagen in der Woche. Oberstes Gesetz: Wenn man sich ihm nähert, dann muß man das offen tun. Er haßt es, wenn Leute sich an ihn anschleichen. Wenn man an eine Tür klopfen muß, sollte man es laut tun. Man darf nicht herumstehen und nicht sprechen, bevor man dazu aufgefordert worden ist. Und wenn man sprechen darf, dann muß man ihm immer in die Augen sehen.
Sie bereitet ein schlichtes Frühstück aus Kaffee, Brot und Fleisch zu und trägt es hinaus. Später weist sie mich an, das Tablett zurückzuholen. Bevor ich gehe, fordert sie mich auf, mein Haar hochzustecken und mich umzudrehen, damit sie mich begutachten kann. Sie sagt, ich bin in Ordnung. Sie sagt, er arbeitet an einem Tisch am Rande des Rasens an der Südseite des Hauses. Oder hat dort gearbeitet. Er bewegt sich rastlos von einem Ort zum anderen. Die Wachen werden wissen, wo er sich aufhält.
Was kann ich über diesen Augenblick schreiben? Ich bin ganz ruhig. Du wärest stolz auf mich gewesen. Ich denke an das, was ich zu tun habe. Ich gehe am Rand des Rasens entlang und nähere mich ihm so, daß er mich deutlich sehen kann. Er sitzt allein auf einer Bank und beugt sich über irgendwelche Papiere. Das Tablett liegt auf einem Tisch neben ihm. Er schaut auf, als ich herankomme, kehrt aber sofort zu seiner Arbeit zurück. Aber während ich über den Rasen davongehe – da, ich schwöre es, habe ich seine Augen in meinem Rücken gespürt, den ganzen Weg, bis ich außer Sichtweite war. Waletschka lacht über mein bleiches Gesicht.
Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen.
Genau in diesem
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