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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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fusselig reden. Ich muß unsere Ausrüstung zusammenstellen. Muß mich an die Arbeit machen. Bringen Sie sie zur Vernunft, Mann, bitte.«
    »Ich habe es Ihnen gleich gesagt«, sagte Sinaida, nachdem O’Brian aus dem Büro gestürmt war und die Glastür hinter sich zugeschlagen hatte. »Ich habe Ihnen gesagt, daß wir ihm nicht trauen können.«
    Kelso lehnte sich auf dem Sofa zurück und rieb sich mit beiden Händen das Gesicht. Das fängt an, gefährlich zu werden, dachte er. Nicht lebensbedrohlich – seltsamerweise war das für ihn immer noch etwas Irreales –, sondern in beruflicher Hinsicht. Es war die Bedrohung seiner Profession, die er jetzt fürchtete. Denn Adelman hatte recht gehabt: Derartige Betrügereien großen Stils liefen in der Regel nach einem Muster ab. Und ein Teil dieses Musters war, daß man zu überstürzten Urteilen gedrängt wurde. Da stand er nun – angeblich ein Mann der Wissenschaft –, und was hatte er getan? Er hatte das Notizbuch einmal durchgelesen. Ein einziges Mal. Und er hatte nicht einmal die grundlegendsten Prüfungen vorgenommen, um festzustellen, ob die Zeitangaben in dem Tagebuch mit Stalins bekannten Aufenthaltsorten im Sommer 1951 übereinstimmten. Er konnte sich die Reaktion seiner früheren Kollegen, die vermutlich gerade jetzt den russischen Luftraum verließen, nur allzugut vorstellen. Wenn sie sehen würden, wie er diese Sache anging…
    Dieser Gedanke machte ihm schwerer zu schaffen, als ihm lieb war.
    Und dann war da noch der andere Packen Papiere, der verschimmelt und verklumpt auf dem Tisch lag. Darauf hatte er bisher noch nicht einmal einen Blick geworfen.
    Er zog O’Brians Handschuhe an und beugte sich vor. Er wischte mit den Zeigefinger behutsam die grauen Sporen auf dem obersten Blatt beiseite. Darunter stand etwas geschrieben. Er rieb etwas kräftiger, und die Buchstaben NKWD kamen zum Vorschein.
    »Sinaida«, sagte er.
    Sie saß an O’Brians Schreibtisch und blätterte in dem Notizbuch, dem Notizbuch, das ihr gehörte. Beim Klang ihres Namens schaute sie auf.
    Kelso lieh sich ihre Pinzette, um die äußere Papierschicht zu entfernen. Sie löste sich wie tote Haut, die sich stellenweise abschuppte, aber immerhin so weit, daß er einige der Worte auf dem darunterliegenden Blatt lesen konnte. Es war ein maschinengeschriebenes Dokument, dem Anschein nach eine Art Überwachungsbericht, datiert vom 24. Mai 1951, unterschrieben von Major I. T. Mechlis vom NKWD.
    »… Zusammenfassung der Ermittlungen vom 23. dieses Monats… Anna Michailowna Safanoiva, geboren in Archangelsk am 27.3.32… Maxim-Gorki-Akademie… Leumund (siehe Anlage). Gesundheitszustand: gut… Diphtherie im Alter von 8 Jahren und 3 Monaten… Röteln, 10 Jahre und 1 Monat… Keine Erbkrankheiten in der Familie bekannt. Parteiarbeit: hervorragend… Pioniere… Komsomol…«
    Kelso löste weitere Schichten ab. Manchmal konnte er einzelne Blätter abheben, manchmal waren zwei oder drei miteinander verklebt. Es war eine mühselige Arbeit. Durch die Glaswand erhaschte er gelegentlich einen Blick auf O’Brian, der Koffer durch das äußere Büro zum Fahrstuhl schleppte, aber er war zu sehr in seine Arbeit versunken, um ihm viel Aufmerksamkeit zu schenken. Was er da las, war ein so vollständiger Bericht über ein 19jähriges Mädchen, wie ihn eine Geheimpolizei überhaupt zusammenstellen konnte. Er hatte fast etwas Pornographisches an sich. Hier war jede einzelne Kinderkrankheit aufgeführt, ihre Blutgruppe (0), der Zustand ihrer Zähne (hervorragend), ihre Größe, ihr Gewicht und ihre Haarfarbe (hell kastanienbraun), ihre körperliche Verfassung (»beim Turnen zeichnet sie sich durch besonders große Tüchtigkeit aus«), geistige Fähigkeiten (»überdurchschnittlich hohe Intelligenz«), ideologische Unbescholtenheit (»vollstes Verständnis der marxistischen Theorie…«), Aussagen ihres Arztes, ihrer Lehrer, ihres Turnlehrers, des Führers der Komsomol-Gruppe, ihrer Mitschülerinnen.
    Das Schlimmste, was von ihr gesagt werden konnte, war, daß sie vielleicht »etwas verträumt« war (Genosse Oborin) und »eine gewisse Neigung zu Subjektivität und bourgeoiser Sentimentalität anstelle einer objektiven Betrachtung ihre privaten Beziehungen« hatte (Jelena Sazanowa). Neben einer weiteren kritischen Bemerkung derselben Genossin Sazanowa, daß Anna »naiv« sei, fand sich eine Randbemerkung mit Rotstift: »Gut!«, und später eine weitere: »Wer ist diese alte Hexe?« Es gab zahlreiche

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