Aurora
durch. Er will alles ganz genau wissen. Wie die Dwina zufriert und Planken darübergelegt werden, und daß wir nur vier Stunden Tageslicht haben. Wie die Temperatur auf unter minus 35 Grad absinkt und die Leute zum Eisfischen in die Wälder gehen.
Er hört sehr aufmerksam zu. »Genosse Stalin ist überzeugt, daß die Seele Rußlands im Eis und in der Einsamkeit des hohen Nordens liegt. Als Genosse Stalin im Exil lebte – das war vor der Revolution, in Kureika, am Polarkreis –, das war die glücklichste Zeit seines Lebens. Hier war es, wo der Genosse Stalin jagen und fischen lernte. Dieses Schwein Trotzki hat behauptet, Genosse Stalin habe nur Fallen gestellt. Eine dreckige Lüge! Genosse Stalin hat Fallen gestellt, ja, aber er hat auch in den Eislöchern geangelt, und er war beim Aufspüren von Fischen so erfolgreich, daß die Einheimischen ihm übernatürliche Kräfte zuschrieben. An einem Tag hat Genosse Stalin auf Skiern fünfundvierzig Werst zurückgelegt und mit vierundzwanzig Schüssen vierundzwanzig Rebhühner erlegt. Konnte Trotzki das von sich behaupten?«
Ich wollte, ich könnte mich an alles erinnern, was er gesagt hat. Vielleicht sollte dies meine Bestimmung sein: seine Worte für die Nachwelt festzuhalten?
Als ich ihn verlasse, um ins Bett zurückzukehren, ist es bereits hell.
8.7.51
Es passiert dasselbe wie beim letzten Mal. Waletschka um drei Uhr nachts an meiner Tür: Er hat sich wieder geschnitten, er verlangt nach mir. Aber als ich ankomme, sehe ich keine Verletzung. Er lacht mir ins Gesicht – er hat sich einen Scherz erlaubt! und weist mich an, seine Hand trotzdem zu verbinden. Er streichelt meine Wange, dann kneift er hinein. »Ist Ihnen klar, furchtlose Anna Safanowa, daß Sie mich zu Ihrem Gefangenen machen?«
Diesmal ist er in einem anderen Zimmer als beim letzten Mal. An den Wänden hängen Fotos von Kindern, aus Zeitschriften herausgerissen. Kinder, die in einem Kirschgarten spielen. Ein Junge auf Skiern. Ein Mädchen, das Ziegenmilch aus einem Horn trinkt. Viele Fotos. Er bemerkt, daß ich sie betrachte, und das veranlagt ihn, offen von seinen eigenen Kindern zu sprechen. Ein Sohn tot. Der andere ein Trinker. Seine Tochter zweimal verheiratet, das erste Mal mit einem Juden; er hat nie zugelassen, daß er sein Haus betrat! Was hat Genosse Stalin getan, damit er dies alles verdient? Andere Männer zeugen normale Kinder. War es schlechtes Blut oder schlechte Erziehung? War etwas mit den Müttern nicht in Ordnung? (Er glaubt es, nach ihren Angehörigen zu urteilen, die ihm ständig auf die Nerven gegangen sind.) Oder war es für die Kinder des Genossen Stalin einfach unmöglich, sich in Anbetracht seiner hohen Position in Staat und Partei normal zu entwickeln? Hier liegt der uralte Konflikt, noch älter als der Kampf zwischen den Klassen.
Er fragt, ob ich von der Rede gehört habe, die der Genosse Trofim Eyssenko 1948 vor der Lenin-Allunions-Akademie für Agrarwissenschaften gehalten hat? Ich sage, ja, ich hätte davon gehört. Meine Antwort freut ihn.
»Aber diese Rede hat Genosse Stalin geschrieben! Es war die Erkenntnis des Genossen Stalin nach lebenslangem Studium und harten Bemühungen, daß erworbene Eigenschaften vererbbar sind. Aber natürlich müssen solche Entdeckungen anderen in den Mund gelegt werden, genauso, wie es die Sache anderer Leute ist, das Prinzip in eine praktische Wissenschaft umzuwandeln.
Erinnern Sie sich an die historischen Worte des Genossen Stalin an Gorki:›Es ist die Aufgabe des Proletariats, Ingenieure menschlicher Seelen zu schaffen.‹
Sind Sie eine gute Bolschewikin, Anna Safanowa?« Ich schwöre ihm, das ich das bin.
»Wollen Sie das beweisen? Wollen Sie für den Genossen Stalin tanzen?«
In einer Ecke des Zimmer steht ein Grammophon. Er geht darauf zu. Ich…
15. Kapitel
»Und damit hört es auf?« fragte O’Brian. Seine Stimme überschlug sich fast vor Enttäuschung. »Einfach so?«
»Sehen Sie selbst.« Kelso drehte das Notizbuch um und zeigte es den beiden anderen. »Die nächsten zwanzig Seiten oder so sind entfernt worden. Und hier – sehen Sie? hier können Sie erkennen, wie es gemacht worden ist. Die abgerissenen Seitenreste sind alle unterschiedlich lang.«
»Und was ist daran so bedeutsam?«
»Es bedeutet, daß sie nicht alle gleichzeitig herausgerissen wurden, sondern eine nach der anderen. Mit Bedacht.« Kelso setzte seine Untersuchung fort. »Hinten sind noch ungefähr fünfzig Seiten vorhanden, nicht beschrieben, aber
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