Aurora
Kelso keimte eine kurze Hoffnung auf eine Gnadenfrist auf. Aber dem war nicht so.
Das Wetter in Archangelsk um 10 Uhr Greenwicher Zeit (15 Uhr Ortszeit) war, dem Bericht zufolge, teilweise bewölkt, minus vier Grad, mit schwachem Wind und leichtem Schneetreiben. Aber von Sibirien zog ein starkes Tiefdruckgebiet nach Westen, und das kündigte Schneefälle an, die heftig genug sein würden, um die Stadt binnen ein oder zwei Tagen von der Außenwelt abzuschneiden. Mit anderen Worten, sagte O’Brian, sie sollten sich beeilen.
O’Brian holte einen Atlas und schlug ihn auf seinem Schreibtisch auf.
Am schnellsten würden sie natürlich per Flugzeug nach Archangelsk gelangen, aber die nächste Aeroflot-Maschine ging erst am folgenden Morgen, und die Fluggesellschaft würde von Kelso die Vorlage seines Visums verlangen, das aber um Mitternacht ablief. Das kam also nicht in Frage. Die Bahnfahrt dauerte über zwanzig Stunden, und sogar O’Brian sah die damit verbundenen Risiken ein – in einem langsam fahrenden Schlafwagen säßen sie regelrecht in der Falle.
Damit blieb nur die Straße – genauer gesagt, die M8 –, der Karte zufolge eine Strecke von 1100 Kilometern, die nur einen kleinen Schlenker machte, um die Stadt Jaroslawl einzubeziehen, und dann an der Waga und der Dwina entlang durch die Taiga, die Tundra und die dichten Wälder im Norden Rußlands direkt nach Archangelsk führte, wo die Straße endete.
»Das ist keine Schnellstraße«, sagte Kelso. »Dort gibt es keine Motels.«
»Keine Sorge, Mann. Es wird ein Klacks, das verspreche ich Ihnen. Uns bleiben jetzt noch – lassen Sie mich überlegen – zwei Stunden Tageslicht, oder? Das sollte reichen, um aus Moskau herauszukommen. Sie können doch fahren?«
»Ja.«
»Also kein Problem. Wir wechseln uns ab. Solche Fahrten, das kann ich Ihnen versichern, sehen auf dem Papier immer schlimmer aus, als sie in Wirklichkeit sind. Sobald wir in freier Landschaft sind, fressen wir die Kilometer weg.« Er stellte auf einem Block eine kurze Berechnung an. »Ich glaube, wir könnten morgen früh um neun oder zehn in Archangelsk sein.«
»Also fahren wir die Nacht durch?«
»Natürlich. Wir können auch eine Pause einlegen, wenn Ihnen das lieber ist. Hauptsache, wir hören auf zu reden und sehen zu, daß wir in die Hufe kommen. Je schneller wir auf der Straße sind, desto früher kommen wir in Archangelsk an. – Wir müssen dieses Notizbuch in irgend etwas einpacken…«
Er kam um seinen Schreibtisch herum und ging auf den Couchtisch zu, auf dem das Notizbuch neben der Masse verquollenen Papiers lag. Aber bevor er es erreichen konnte, riß Sinaida es an sich.
»Das«, sagte sie auf englisch, »ist meins.«
»Wie bitte?«
»Meins.«
»Das stimmt«, sagte Kelso. »Ihr Vater hat es ihr hinterlassen.«
»Ich will es nur ausleihen.«
»Njet!«
O’Brian wendete sich an Kelso. »Ist sie verrückt? Angenommen, wir finden Anna Safanowa?«
»Und wenn wir sie finden? Was genau stellen Sie sich vor? Stalins einstige Geliebte, die grauhaarig in einem Schaukelstuhl sitzt und ihren Besuchern laut aus dem Tagebuch vorliest?«
»Witzbold. Aber die Leute werden viel eher geneigt sein, mit uns zu reden, wenn wir Beweise bei uns haben. Ich meine, wir müssen das Notizbuch mitnehmen. Wieso sollte es ihr gehören? Es gehört ihr ebensowenig wie mir. Oder sonst jemandem.«
»Weil das Teil unserer Abmachung ist, schon vergessen?«
»Abmachung? Mir scheint, die einzigen, die hier etwas miteinander abgemacht haben, seid ihr beide.« Dann verfiel er aber wieder in seinen schmeichlerischen Ton. »Ihnen ist doch klar, Fluke, daß sie hier im Moskau damit nicht sicher ist. Wo sollte sie es aufbewahren? Was ist, wenn Mamantow hinter ihr her ist?«
An diesem Argument kam Kelso nicht vorbei. »Weshalb fährt sie dann nicht mit uns?« Er wendete sich an Sinaida. »Fahren Sie mit uns nach Archangelsk…«
»Mit ihm?« sagte sie auf russisch. »Kommt nicht in Frage. Er wird uns beide umbringen.«
Kelso begann die Geduld zu verlieren. »Dann müssen wir Archangelsk eben aufschieben«, sagte er gereizt zu O’Brian, »bis wir eine Möglichkeit gefunden haben, das Material zu kopieren.«
»Aber Sie haben die Wettervorhersage gehört. In ein oder zwei Tagen ist es unmöglich, dort hinauf zu fahren. Und außerdem ist dies eine Story. Stories dulden keinen Aufschub.« Er hob angewidert die Hände. »Verdammter Mist. Ich kann nicht den ganzen Nachmittag hier herumstehen und mir den Mund
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