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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Unterstreichungen, Ausrufe und Fragezeichen und Randbemerkungen: »Ha ha ha«, »Na und?«, »Gut!«
    Kelso hatte genügend Zeit in Archiven verbracht, um diese Handschrift und diesen Stil zu erkennen. Die handschriftlichen Zusätze stammten von Stalin. Daran konnte keinerlei Zweifel bestehen.
    Nach einer halben Stunde brachte er die Blätter wieder in ihre ursprüngliche Reihenfolge und zog die Handschuhe aus. Seine Hände waren verschwitzt und fühlten sich an wie Klauen.
    Plötzlich überkam ihn ein Gefühl des Selbstekels.
    Sinaida beobachtete ihn.
    »Was, glauben Sie, ist mit ihr passiert?«
    »Nichts Gutes.«
    »Er hat sie aus dem Norden geholt, um sie zu vögeln?«
    »So könnte man es ausdrücken.«
    »Armes Kind.«
    »Armes Kind«, pflichtete er ihr bei.
    »Und weshalb hat er ihr Tagebuch behalten?«
    »Besessenheit? Verliebtheit?« Er zuckte die Achseln. »Wer weiß das schon. Er war damals bereits ein kranker Mann, der nur noch zwanzig Monate zu leben haben sollte. Vielleicht hat sie niedergeschrieben, was alles noch mit ihr passiert ist, dann hat sie es sich anders überlegt und die Seiten herausgerissen. Oder, was wahrscheinlicher ist, er bekam ihr Tagebuch in die Hand und riß die Seiten selbst heraus. Er mochte es nicht, wenn Leute zuviel über ihn wußten.«
    »Also, eines kann ich Ihnen sagen: In dieser Nacht am 8. Juli hat er sie nicht gevögelt.«
    Kelso lachte. »Und woher wissen Sie das?«
    »Ganz einfach. Sehen Sie hier.« Sie schlug das Notizbuch auf.
    »Hier, am 12. Mai, hat sie ›die übliche Unpäßlichkeit dieser Tage‹. Am 10. Juni, im Zug, sind das ›die schlimmsten Tage zum Reisen‹. Sie können es sich selbst ausrechnen. Zwischen diesen beiden Bemerkungen liegen genau achtundzwanzig Tage. Und achtundzwanzig Tage nach dem 10. Juni ist der 8. Juli. Der Tag ihrer letzten Eintragung.«
    Kelso stand langsam auf und trat an den Schreibtisch. Er schaute über ihre Schulter auf die kindliche Schrift.
    »Wovon reden Sie?«
    »Sie war ein Mädchen, das regelmäßig funktionierte. Eine regelmäßig funktionierende kleine Komsomolzin.«
    Kelso mußte diese Tatsache erst einmal verdauen, zog die Handschuhe wieder an, nahm Sinaida das Buch weg und blätterte zwischen den beiden Seiten hin und her. Also, das war doch irgendwie verrückt. Das war widerlich. Er konnte sich kaum überwinden, den Verdacht zuzulassen, der langsam in seinem tiefsten Bewußtsein Gestalt annahm. Aber weshalb hätte Stalin sonst ausgerechnet daran interessiert sein sollen, ob Anna die Röteln gehabt hatte? Oder ob es in der Familie irgendwelche Erbkrankheiten gab?
    »Sagen Sie mir«, sagte er leise, »wann wäre sie fruchtbar gewesen?«
    »Vierzehn Tage später. Am zweiundzwanzigsten.«
    Und plötzlich schien sie nicht schnell genug verschwinden zu können.
    Sie schob ihren Sessel vom Schreibtisch zurück und starrte das Notizbuch angewidert an.
    »Nehmen Sie das verdammte Ding«, sagte sie. »Nehmen Sie es. Behalten Sie es.«
    Sie wollte es nicht noch einmal anfassen. Sie wollte es nicht einmal mehr sehen.
    Als ob ein Fluch darauf ruhte.
    Nur Sekunden später hatte sie ihre Tasche über die Schulter gehängt und riß die Tür auf. Kelso mußte rennen, um sie einzuholen, als sie durch das Vorzimmer auf den Fahrstuhl zuhastete. O’Brian kam aus einem Redaktionsraum, um zu sehen, was los war. Er trug eine warme, wasserdichte Jacke, und zwei Ferngläser baumelten an seinem stämmigen Hals. Er wollte ihnen folgen, aber Kelso winkte ab.
    »Das ist meine Sache.«
    Sie stand auf dem Gang, mit dem Rücken zu ihm.
    »Hören Sie, Sinaida«, sagte er. Die Fahrstuhltür glitt auf, und er folgte ihr in die Kabine. »Hören Sie. Da draußen sind Sie nicht sicher…«
    Einen Augenblick später hielt die Kabine an, und ein Mann kam herein – untersetzt, in mittleren Jahren, schwarzer Ledermantel und schwarze Ledermütze. Er stand zwischen ihnen, musterte zuerst Sinaida und dann Kelso; offenbar spürte er die Spannung, die in ihrem Schweigen lag. Er schaute geradeaus und schob leise lächelnd das Kinn vor. Kelso konnte sich vorstellen, was er dachte: Kleiner Streit unter Liebenden – nun ja, so ist das Leben nun einmal, sie werden darüber hinwegkommen…
    Als sie im Erdgeschoß angekommen waren, trat der Mann höflich beiseite, um die beiden als erste aussteigen zu lassen. Sinaida klapperte in ihren kniehohen Stiefeln eilig über den Marmor. Ein Wachmann drückte auf einen Schalter, um die Tür zu entriegeln.
    »Sie«, sagte sie,

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