Aus dem Berliner Journal
Zärtlichkeit, aber sie bleibt fordernd. Vorgestern Gespräch über Brecht: wie er heute dastünde als Fünfundsiebzigjähriger, inwiefern er anders wäre als der Klassiker seines Namens, inwiefern auch anders die Rezeption. Fragen. Uwe Johnson ist mühsamer als die meisten, auch wenn er lustig ist, witzig. Er fordert mich. Das ist eine Auszeichnung, so wie er es macht; er fordert nicht wie so viele Kluge, um sich bestätigt zu sehen, wenn der andere den Forderungen nicht genügt; er fordert mich aus Hoffnung.
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Berlin ohne eine einzige Zeitung von Rang.
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Was die geographische Distanz ausmacht. In Zürich schrieb ich noch einen Brief an den freundlichen Professor Karl Schmid (UNBEHAGEN IM KLEINSTAAT) in Bassersdorf; hier und jetzt würde ich zu seinem Buch, das seit zehn Jahren wirkt, nicht anders schreiben, sondern überhaupt nicht.
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Ich lebe jetzt ohne Vorsatz.
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26 Hier kein Kopfweh; schon das spricht für Berlin, die leichtere Luft; anders als in Berzona und in Küsnacht, wo es zwischen Müdigkeit und Müdigkeit nur wenige Stunden sind, die meinen Tag ausmachen. Sagen wir: die Luft.
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27 Das Buch, das mir unter den neuen Büchern in letzter Zeit den grössten Eindruck gemacht hat: WUNSCHLOSES UNGLÜCK von Peter Handke . Ein Virtuose, das wusste man sehr früh, aber plötzlich hat er etwas zu melden (so dass ich mich nicht mehr frage, warum ich lese) und auch das sehr früh; Handke ist dreissig.
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35 17.2.
Ohne Vorsatz leben (was allerdings eine privilegierte Lage voraussetzt, ein Schlösschen, wie Herr de Montaigne es hatte, oder ein Checkbuch): es ist nicht ohne weiteres zu lernen. Eben das Bewusstsein, dass man in eine privilegierte Lage geraten ist, nötigt zu Vorsätzen. Eine lange Zeit meines Lebens, als ich nicht hungerte, aber ziemlich mittellos war, etwa so mittellos wie die grosse Mehrheit, interessierte mich die Gesellschaft überhaupt nicht, die Politik, die Utopie; mein soziales Engagement begann schleichend wie mein Wohlstand, der (das glaube ich mir wirklich) nie mein Ziel war, aber als fait-accompli mehr und mehr zu Vorsätzen nötigte, die den Sonder-Wohlstand nicht heiligen, aber als Mittel zum Zweck rechtfertigen. Das heisst nicht ohne weiteres, dass ich mir (und Leuten meiner Art) den Sozialisten nicht glaube. Im Gegenteil; aber auch das nicht ironisch gemeint: das gesellschaftliche Gewissen ist ein Luxus. Muss man sich diesen Luxus leisten? Der Vorsatz, etwas beizutragen zur Verbesserung dieser Gesellschaft, entspringt dem Bedürfnis nach Anstand – ich weiss nicht, was ich habe sagen wollen – Ohne Vorsatz leben …
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Lektüre: Christa Wolf LESEN UND SCHREIBEN , ich hoffe sie demnächst zu treffen (»drüben«).
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36 Im Januar, bei der Bestattung unsrer Schwester Emmy , Verwunderung über die Geschichte der eignen Familie, verbunden mit den Geschichten andrer Familien; der Tisch der Hinterbliebenen, viele Alte, aber auch Junge. Plötzlich erinnerte ich mich kettenweise an Verdrängtes, aber an keinen Grund, warum man es verdrängt hat.
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37 Ich habe schon öfter geträumt, dass der JAGUAR (Anschaffungspreis: 31.000 Franken) gestohlen worden ist, noch nie geträumt, dass etwa die Schreibmaschine gestohlen worden ist. Dabei wäre ich ohne Schreibmaschine in einer wirklichen Verlegenheit.
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38 Seit ich die Notizen, die anfallen, in ein Ringheft einlege, merke ich schon meine Scham; ein Zeichen, dass ich beim Schreiben schon an den öffentlichen Leser denke, gleichviel wann es dazu kommen könnte. Und mit der Scham gleichzeitig auch die Rücksicht auf andere, die auch tückisch sein kann, verhohlen, vorallem doch wieder ein Selbstschutz; ich schreibe nicht: Paul ist ein Arschloch. Punkt. Damit wäre ich ja ungerecht.
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39 Die Rechnung andersherum. Eine Frau von 38 hat noch die volle Möglichkeit mit einem zweiten Partner. Das wäre in vier Jahren. Keine Ahnung, ob M. auch diese Rechnung anstellt; sie auch nur ein einziges Mal auszusprechen wäre lächerlich. Dabei liegt sie zwischen uns auf dem Küchentisch, während wir geniessen.
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40 Ich weiss jetzt, dass ich nicht schreibe, weil ich andern irgendetwas zu sagen habe. Meistens weckt mich der Fluglärm um sieben Uhr , spätestens um acht Uhr stehe ich zur Verfügung, gewaschen, gekleidet, ausgestattet mit der ersten Pfeife. Ich schreibe, um zu arbeiten. Ich arbeite, um zuhause zu
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