Aus Dem Dunkel
immer gewusst, dass Jun Yeup anders war. Es lag nicht nur an dem Kreuz, das er um den Hals trug. Es war das Mitgefühl in seinen Augen, seine eher vorsichtigen Berührungen. Ironischerweise war er der Neffe von Gabes schlimmstem Feind Seung-Ki. Jun Yeup würde mit seinem Leben dafür bezahlen, dass er Gabe hatte entkommen lassen.
»Was ist mit dir?«, fragte Gabe und griff nach dem Ärmel des Jungen. »Du kannst nicht hierbleiben. Dein Onkel wird dich töten.«
In Jun Yeups Augen flammte Hoffnung auf. »Ich gehen mit dir«, schien er in einem plötzlichen Anfall von Tapferkeit zu entscheiden. »Nach Südkorea.«
Oh, Scheiße. Gabe zog den Kopf des Jungen zu sich hinunter und lehnte dessen Stirn an seine eigene. »Du kannst nicht mitkommen, Juni«, sagte er und benutzte den Kosenamen des Kleinen. »Das ist zu gefährlich.« Er sah tief in Jun Yeups dunkle Augen, um ihm deutlich zu machen, wie ernst er es meinte.
»Ich gehen zu Großvater«, änderte Jun Yeup seinen Plan mit einem schwachen Lächeln.
»Gut«, sagte Gabe, und es schnürte ihm plötzlich die Kehle zu. Er hielt den Schlüssel so fest umklammert, dass sich die Kanten in seine Handfläche bohrten, und konnte nicht glauben, was er gerade erlebte. Allmächtiger Gott, er hatte so sehr darauf gehofft, irgendwann fliehen zu können!
»Sieh«, fügte Jun Yeup hinzu. Mit einem schüchternen Grinsen hob er ein paar alte Tennisschuhe vom Boden auf.
Gabe warf einen Blick auf die Schuhe und lächelte dankbar. Sie waren mindestens drei Größen zu klein für ihn, aber sie zu tragen wäre hundertmal besser, als barfuß laufen zu müssen.
Gelächter im Hof ließ sie erstarren wie Diebe. Jun Yeup schoss quer durch den Raum, um die Schuhe hinter der Tür zu verstecken, falls jemand einen Blick in die Zelle warf. Während sich Stimmen näherten, hob er zum Abschied eine Hand, und sein Blick spiegelte die Überzeugung wider, rechtschaffen gehandelt zu haben. »Gott sei mit dir«, sagte der Junge. Dann schlüpfte er so leise aus der Zelle, wie er hereingekommen war.
Gabe starrte auf die geschlossene Tür und vermisste den Kleinen bereits.
Gott möge auch dich beschützen , dachte er und spürte einen Kloß im Hals.
Die Stunden bis zum Sonnenuntergang verflogen wie in einem Traum. Gabe plante seine Flucht, rief sich Karten und Aufzeichnungen ins Gedächtnis. Er wog die Chancen ab, die Entmilitarisierte Zone zu durchqueren oder sie zu umgehen. Er streifte die Tennisschuhe über und wünschte, er hätte ein Messer, um die Spitzen abzuschneiden und seinen gequetschten Zehen mehr Platz zu verschaffen. Viel zu früh begann der Himmel, den er durch das schmale Fenster unter der Decke sehen konnte, sich zu verdunkeln.
Er wartete, bis es in dem Gebäudekomplex ruhig wurde, bis sich die letzten Schritte in Richtung des Tempels entfernt hatten. Mit einem letzten geflüsterten Gebet erhob sich Gabe mit dem Schlüssel in der Hand und schloss die Zelle auf, in der er die letzten dreihunderteinundsechzig endlosen Tage verbracht hatte.
Kurz bevor er die Tür schloss, hielt er inne, um noch einmal zurückzublicken. Der Raum war für ihn mit Hunger, Durst und körperlichen Qualen verbunden. Während seiner Gefangenschaft hatte er sich jeden Augenblick seines Lebens noch einmal in Erinnerung gerufen. Es war das reinste Fegefeuer gewesen, ein Ort, um über seine Sünden nachzudenken und um Vergebung zu bitten. Dass plötzlich ein nostalgisches Gefühl in ihm aufstieg, überraschte ihn. Diese Hölle auf Erden würde er mit Sicherheit nicht vergessen.
Und doch hatte er sich auf diesem gemauerten Vorsprung, wo er immer nur kurz Schlaf finden konnte, mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt. Er hatte über seine Kindheit nachgedacht – Jahre, die er glaubte, längst vergessen zu haben. Er hatte sich daran erinnert, was für ein Gefühl es gewesen war, ein Junge zu sein, der seine Mutter verloren hatte; daran, wie er um sie geweint hatte, bis er im Glauben gewesen war, keine Tränen mehr zu besitzen – eigentlich nicht mal mehr ein Herz in seiner Brust. Er hatte sich an seine Jahre als Teenager erinnert und zum ersten Mal die Wut und die Verzweiflung verstanden, die sein Antrieb gewesen waren. Er hatte sich so anders als die anderen Kinder gefühlt, so betrogen vom Leben. Voller Rachsucht hatte er um sich geschlagen und dabei eigentlich immer nur sich selbst verletzt.
Dem Herrn sei Dank für Männer wie Sergeant O’Mally, Master Chief Black und Commander Troy. Männer, die an ihn
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