Aus Dem Dunkel
Boxershorts vorstellen, wie er mitten auf dem Bett saß, gegen die Wand gelehnt und die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und jede Menge Selbstvertrauen ausstrahlte.
Wo um Himmels willen sollte sie die Kraft hernehmen, ihm zu widerstehen? Sie erschauerte, als sie das Licht ausschaltete und das Gästezimmer betrat.
Doch ihre Erwartungen wurden herbe enttäuscht. Gabe wartete nicht auf dem Bett.
Ihre Augen hatten sich noch nicht an das Halbdunkel gewöhnt, als sie den Raum absuchte. Da war er. Arme und Beine von sich gestreckt, lag er auf dem Boden, halb zugedeckt mit einem Laken, das Kissen schräg unter dem Kopf, und er schlief tief und fest.
Sehr viel enttäuschter, als sie es sich eingestehen wollte, kniete Helen sich neben ihn und rüttelte ihn sanft. Er zuckte nicht einmal. Im blassen Nachtlicht, das im Badezimmer eingeschaltet war, betrachtete sie seine ebenmäßigen Züge, die dunklen Wimpern.
Sein Mund wirkte im Schlaf besonders weich. Plötzlich wallte Mitgefühl in ihr auf. Der arme Mann! Würde er sich jemals so weit erholen, um alle seine Entbehrungen wieder wettmachen zu können?
Nachdem sie das Laken bis zu seinen Schultern hochgezogen hatte, widerstand sie dem Bedürfnis, ihm das Haar aus der Stirn zu streichen. Er konnte ruhig auf dem Boden schlafen, wenn es das war, was er wollte. Offensichtlich besaß er die nötige Willenskraft, Abstand zu ihr zu halten.
Das war mehr, als sie im Moment von sich behaupten konnte.
Mit einem Seufzer ging sie zum Bett und schlüpfte unter die Decke. Es war kalt und verlassen. Sie rutschte an den Rand der Matratze und betrachtete aus der Entfernung ihren Mann.
Er wirkte auf sie wie ein Fremder, der ihr doch irgendwie vertraut vorkam. Er war nicht der Gabe, den sie geheiratet hatte, jener clevere, unabhängige und rücksichtslose Mann, von dessen Stärke und Intelligenz sie fasziniert gewesen war… Aber irgendwann hatte seine Unnahbarkeit ihre Gefühle für ihn erkalten lassen, bis ihr Herz zerbrach und die Liebe verging.
Doch dieser Gabe hier schien, anders als der alte, ein Herz zu besitzen. Über seine einsame Kindheit zu berichten war ihm schwergefallen. Er hatte seinen Stolz heruntergeschluckt und sie um eine zweite Chance gebeten. Er kümmerte sich um Mallory, die Tochter, für die er früher nie Zeit gehabt hatte. Helen überlegte, wie es wohl sein würde, wenn sie ihm erlaubte, sich auch um seine Frau zu kümmern. Sie grübelte über die Möglichkeiten nach. Das Leben mit diesem Mann konnte wirklich gut sein, wenn nur seine Erinnerungen ihn ihr nicht wieder entführen würden. Mit einem sehnsüchtigen Seufzer schloss sie die Augen. Sie ignorierte ihre körperlichen Bedürfnisse und sagte sich, dass sie jetzt schlafen müsse. Es gab immer noch ein Morgen. Und zum ersten Mal seit langer Zeit sah dieses Morgen vielversprechend aus.
Gabe rollte sich auf dem gemauerten Vorsprung herum und starrte in das vertraute Gesicht seines jüngsten Entführers, Jun Yeup. An diesem Nachmittag lächelte der junge Mann nicht. Sonnenlicht strömte durch das schmale Fenster unter der Decke und beleuchtete ein breites, ernstes Gesicht, die Augen waren dunkel vor Sorge.
Gabe stützte sich auf seine Ellbogen. Jun Yeups silbernes Kreuz lag warm und schwer auf seiner nackten Brust. »Was ist los?«, fragte Gabe auf Englisch, da er seinen Entführern niemals offenbart hatte, dass er ihre Sprache verstand. Zur gleichen Zeit spitzte er die Ohren, ob er die normalen Geräusche hörte – die Stimmen seiner Wächter im Raum nebenan, die Aktivitäten draußen im Hof. Aber es war seltsam ruhig.
»Heute ist Fest von Reis«, flüsterte Jun Yeup in gebrochenem Englisch, während sein Blick immer wieder zur Tür glitt. »Alle gehen in Tempel.« Er deutete zum östlichen Bereich der Anlage.
Irgendetwas an dem Tonfall des Jungen erregte Gabes Aufmerksamkeit, und er suchte in dessen Augen nach einem Hinweis. Was wollte Jun Yeup ihm sagen?
Er spürte, wie ihm ein Gegenstand in die Hand gedrückt wurde. Seine Finger schlossen sich darum. Ohne hinzusehen, wusste er, dass es sich um einen Schlüssel handelte.
Ein Schlüssel! Sein Puls beschleunigte sich. Gütiger Gott! Konnte das wahr sein?
»Warte, bis Sonne sinkt«, riet ihm Jun Yeup, und in seinem Flüstern schwang deutliche Angst mit. »Dann geh. Geh schnell. Geh zur Sonne.« Er deutete zum Fenster. »Du siehst kleines Wasser. Folge Wasser. Geh schnell.«
Gabe konnte seinen jungen Retter nur mit offenem Mund anstarren. Er hatte
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