Aus dem Nichts ein neues Leben
zu demonstrieren, daß es keine Widerrede gab. »Wer nur ein Bein hat, lernt das gute Gehen anderer Menschen schätzen.« So wurde Julius Paskuleit Schuhmacher, ließ sich in Groß Puppen mit einer Werkstatt nieder und zog 1940 nach Adamsverdruß, weil sein Schwager Ewald Kurowski in den Krieg mußte.
Auch Ewald Kurowski war Schuhmachermeister. Als er 1942 zum letztenmal in Urlaub war, sagte er: »Julius, Erna kriegt wieder ein Kind. Paß auf meine Familie auf, und wenn mir was passiert … bleib bei ihr. Verlaß sie nicht. Bis auf Großvater und Großmutter haben wir ja nur noch dich. Und dieser Krieg wird eine große Scheiße werden, das sag ich dir. Das ganze Heil-Rufen macht uns doch nur besoffen, und was der Baum da an Reden hält, quatscht er doch nur nach. Julius, kümmere dich um meine Familie …«
Und das tat Paskuleit. Als Ewald Kurowski Ende 1943 vermißt wurde, irgendwo in den Pripjet-Sümpfen, wurde er der Chef der Kurowskis. Seine Schwester Erna und die Kinder erkannten ihn an, auch Großmutter Berta war froh, daß Paskuleit mit seiner Schuhmacherwerkstatt die Familie ernährte, lediglich Großvater Joachim, genannt ›Brüll-Jochen‹, sah nicht ein, warum ein junger Kerl Familienoberhaupt wurde und nicht er, der Würdigste von allen. Für ihn, den 72jährigen, war Paskuleit mit seinen 39 Jahren gerade aus dem Ei gekrochen. Er zeigte seinen Widerstand an allem, kam zu spät zum Essen, war grundsätzlich anderer Meinung als Paskuleit und brüllte bei jeder Gelegenheit: »Mein Urahne war Müller bei den Ordensrittern. Ich lasse mir nichts befehlen!«
Auch jetzt schnupperte er in die Luft, hörte wohl das ferne Grollen, aber da Paskuleit schon seine Meinung abgegeben hatte, sagte er ebenso laut: »Das ist ein Gewitter!«
»Sie stehen an der Weichsel, es stimmt«, sagte Pfarrer Heydicke. Er ging durch die Leute von Adamsverdruß hinüber zu seinem kleinen Pfarrhaus, und sie folgten ihm dichtgedrängt. Nur Opa Jochen blieb stehen, drückte das Kinn an und brüllte: »Es ist ein Gewitter!«
»Wir sollten Baum fragen, was nun kommt«, sagte Paskuleit. »Als Ortsgruppenleiter muß er wissen, wie's weitergeht! Kommt der Russe über die Weichsel? Gibt's ein zweites Tannenberg? Er soll mal in Ortelsburg bei der Kreisleitung anrufen.«
»Sie werden kommen.« Pfarrer Heydicke blieb in der Tür seines Hauses stehen. Sein Blick wanderte über die Köpfe. Ein paar Männer, meistens alte, zu alt für den Krieg, ein paar Invaliden, wie Paskuleit, genau vierzehn jüngere Männer, für unabkömmlich erklärt, weil sie in verschiedenen Fabriken in Ortelsburg und Bischofsburg arbeiteten, oder wie der Schuhmachergeselle Franz Busko, der wegen einer alten Lungentuberkulose nicht eingezogen wurde, irgendwelche Leiden hatten, sonst aber nur Frauen und Kinder. Eine zusammengeballte Masse stummer Fragen und hintergründiger Angst. Was wird aus uns? Müssen wir Adamsverdruß verlassen? Kommt der Russe bis zu uns? Und wohin dann? Hinauf zur Küste, zur Nehrung? Oder westwärts, nach Pommern, nach Berlin, ins Brandenburgische Land hinein? Was wird aus Ostpreußen, Herr Pfarrer? Müssen wir aus der Heimat flüchten?
»Ich weiß es nicht«, sagte Heydicke in die breitflächigen Gesichter hinein. Diese Menschen brauchten nicht laut zu fragen, er verstand sie an ihren Blicken. »Ich weiß nicht einmal, ob Gott hier helfen kann. Im Krieg beten alle zu Gott … alle, die auf Befehl töten, hüben und drüben. Die Bomben werden gesegnet, die Granaten, die Gewehre, die Kanonen, die Menschen, die Verwundeten, die Sterbenden, die Toten. Gott soll jedem helfen, denn jeder glaubt, gerecht zu sein. Was soll Gott tun? Wißt ihr darauf eine Antwort?«
Die Kirchgänger zerstreuten sich langsam. Sie waren stolz auf ihren Pfarrer. Er war nicht einer von denen, die immer und zu jeder Gelegenheit sich hinter Jesus versteckten und ihm die Entscheidung zuschoben. Er sagte, was er dachte, und es war oft nicht heilig, aber ehrlich. Das war mehr wert als zehn Bibelsprüche, die gerade jetzt nicht mehr halfen, wo dieses ferne Grollen in der Luft hing.
»Ich geh zu Baum«, sagte Paskuleit, als die Familie Kurowski am Vorgarten ihres Hauses angelangt war. »Von der Weichsel bis zu uns ist ein Spaziergang. Wir sollten uns auf alles vorbereiten.«
»Ich geh mit«, sagte Großvater Jochen und stemmte seinen Spazierstock in den Boden.
»Warum?« Paskuleit zeigte in den Herbsthimmel mit den träge ziehenden Wolkenbergen. »Kümmere dich um dein
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