Aus dem Nichts ein neues Leben
Juliane Brakau zur Kirche rollte. Er trug seine Parteiuniform, aber die linke Rocktasche war ausgebeult, und hier verbarg er das Gesangbuch. Baum wußte das, und in diesem Augenblick beneidete er Lusken, daß dieser ein anderes Wort hören konnte als die von Adolf Hitler.
Er beschloß, am Abend heimlich zu Pfarrer Heydicke zu gehen, hintenherum, durch den Garten, und mit ihm zu sprechen.
Am 20. Oktober – es regnete wie aus Eimern, und Jochen Kurowski sagte: »Jetzt ersäuft Adamsverdruß. Die Russen müssen in der Badehose kommen!« – kam der Unteroffizier Hans Kampken zurück. Man hatte ihm bei Witebsk ein Auge ausgeschossen, das rechte, er trug eine schwarze Klappe über der leeren Höhlung und trug als Ersatz für sein Auge das Eiserne Kreuz I. Klasse an der Brust. Er kam von Groß Puppen mit einem Dogcart gefahren, das dem Apotheker gehörte, und machte in der Dorfschenke seine erste Station. Paskuleit und sein Geselle, der lungenkranke Franz Busko, saßen beim Skat, als Kampken triefend von Nässe eintrat und sich wie ein Hund schüttelte.
»Leute, ist das eine Scheiße!« rief er und winkte dem Wirt zu. »Einen Kümmel, Franz!« Er sah sich um, klopfte Paskuleit auf die Schulter und beachtete einen Mann nicht, der fremd hier war, in der Ecke saß und ein Bier trank. Er war mit einem Auto gekommen und hatte sich als Versicherungsvertreter vorgestellt.
»Wißt ihr schon, was los ist? Ich komme gerade aus Rastenburg, aus 'm Lazarett. Der größte Feldherr aller Zeiten soll kalte Füße kriegen. Das Führerhauptquartier soll nach Berlin verlegt werden. Wißt ihr, was das bedeutet? Ostpreußen ist bald im Eimer. Macht euch auf die Socken, Leute! Ich sage euch: Wenn der Iwan mit seinen T34 erst einmal losrollt, hält keiner mehr den Daumen dazwischen. Prost, Leute. Mein Auge liegt in Witebsk. Es meldet mir: Alles große Scheiße! In Kurland liegt eine ganze Panzerdivision ohne einen Liter Sprit, in den Weichselniederungen liegen die Jungs und müssen ihre Patronen und Handgranaten zählen. Und der Iwan holt heran, Tag und Nacht … Panzer, Kanonen, Stalinorgeln, Lastwagen, Divisionen, frische, unverbrauchte Truppen aus Sibirien … die reißen uns den Arsch bis zum Zäpfchen auf!«
An diesem Abend sprach Paskuleit noch einmal mit seiner Schwägerin. »Fahr nach Krefeld«, sagte er. »Es ist ja nur ein Abwarten, Erna. Ich bleibe ja hier. Aber wenn es brenzlig wird … denk daran, was Ewald zu mir gesagt hat: Sorge für Erna und die Kinder. Ihr fahrt am Samstag in den Westen.«
»Wir bleiben hier«, sagte Erna Kurowski. »Ewald ist hier geboren, ich bin hier geboren, die Kinder sind hier geboren, hier steht unser Haus, hier ist Ewalds Werkstatt, und hierher wird Ewald zurückkommen. Er lebt, das fühle ich, vermißt ist nicht tot, und wenn er plötzlich vor der Tür steht und niemand ist da, was soll ich ihm dann später sagen? Wir waren feig, wir sind einfach weggefahren, wir haben von ganz weit Kanonendonner gehört und sind geflüchtet?! Nein, Julius … wir bleiben hier!«
»Ihr werdet es bereuen«, sagte Paskuleit ernst. »Zwingen kann ich euch nicht. Aber wenn der Russe wirklich nach Ostpreußen kommt, wird's ein Wettrennen, und ob wir das dann gewinnen …?«
Am nächsten Tag holten zwei Mann des SD den Unteroffizier Hans Kampken aus dem Bett. Er hatte noch nicht einmal mehr Zeit, sich seine Klappe über die leere Augenhöhle zu schnallen. Sie führten ihn wie einen Mörder zu einem geschlossenen grauen Wagen und fuhren mit ihm ab. Auch der fremde Herr, der Versicherungsvertreter, verließ Adamsverdruß, nachdem er kurz mit Ortsgruppenleiter Felix Baum gesprochen hatte. Opa Jochen wanderte am Abend dann durch das Dorf und berichtete.
»Sie werden den Kampken zum Tode verurteilen«, brüllte er. »Und Baum hat eine Verwarnung bekommen! Hölle und Teufel, nur weil er die Wahrheit gesagt hat! In Kurland ist der Russe wirklich durchgebrochen! Leute, wir sollten anfangen, die Koffer zu packen! Kommt der Russe über die Weichsel, hält den keiner mehr auf! Das sage ich, Joachim Kurowski … und wenn sie mich jetzt neben Kampken aufhängen!«
Um Ostpreußen schloß sich die Zange der sowjetischen Divisionen. Tausende von Panzern warteten auf den Angriffsbefehl, Tausende Geschütze richteten sich auf die deutsche Grenze, ein Meer aus graubraunen Menschenleibern flutete heran. Neue Armeen aus den Tiefen Rußlands, junge frische Truppen … und ihnen gegenüber lagen die müden, ausgezehrten,
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