Aus dem Nichts ein neues Leben
als er nach zwanzig Stunden ein paar vollständige Sätze sprechen konnte, ging er zum Friedhof, stellte sich an Paskuleits Grab und sagte: »Jetzt paß mal uff, Meester, det hättste nie jeglaubt: I have a coat … Na, da biste platt!«
So ging ein ganzes Jahr vorbei. Erna Kurowski wurde immer unsicherer … über das Rote Kreuz erfuhr sie, daß Ewald Kurowski als tot anzusehen sei, man mache ihr den Vorschlag, schon wegen des Geschäfts, Kurowski für tot erklären zu lassen. Ellerkrug las den Brief und sagte nichts dazu, aber Erna verstand ihn auch so. Sie begann, realistisch zu denken, und sie sprach darüber mit ihrem Mann, der immer bei ihr war … als großes, gerahmtes Bild neben dem Bett auf dem Nachttisch. Der Unteroffizier Kurowski, die letzte Aufnahme im letzten Urlaub … ein fröhlicher, kräftiger Mann mit wasserblauen, verliebten Augen. »Ich werde Heinrich heiraten, Ewald –« sagte sie im November 1949. Über dem Geschäft waren zwei Etagen des zerbombten Hauses aufgebaut worden, die erste Etage bewohnten nun die Kurowskis, in der zweiten lebte ein Studienrat von Ludwigs Gymnasium, was sich als sehr fördernd auf die Zensuren auswirkte. Einen Teil des Geldes zum Ausbau hatte Ellerkrug gegeben … zinsloses Darlehen. Das Leben schritt weiter, und es wurde schöner und liebenswerter, erfolgreich und anspruchsvoller.
Busko war Landrat geworden … wenn es jemals wieder eine selbständige deutsche Regierung geben würde, war ihm ein Platz im Parlament oder in einem Ministerium sicher, das hatte die Partei ihm versprochen. Als ›Mann der ersten Stunde‹ hatte er schon so etwas wie einen Mythos … aber die Reden schrieb ihm immer noch Heinrich Ellerkrug.
»Die Kinder brauchen einen Vater, Ewald –«, sagte Erna zu dem Bild. »Ludwig wird flegelig, Peter hat Schwierigkeiten in Latein und Mathematik, und Inge wird einmal ein hübsches Mädchen, auf das man verdammt aufpassen muß. Und dazu der Laden, die Werkstatt, nächstes Jahr will Heinrich zwei Filialen gründen … es wird zuviel, Ewald. Laß mich Heinrich heiraten … er hat wirklich geduldig gewartet.«
Es war der 15. November 1949, ein grauer, nebeliger, feuchter Herbsttag, als sich Erna ein neues Kleid anzog, das Ellerkrug ihr geschenkt hatte und das er ›Cocktail-Kleid‹ nannte. Es hatte Goldfäden, war ziemlich tief ausgeschnitten, ließ die Ansätze von Ernas schönen, runden Brüsten sehen und verwandelte sie in eine selbst ihr fremde Schönheit. Ellerkrug wollte sie um halb acht Uhr abholen, mit ihr nach Köln ins Theater fahren – das Schauspielhaus spielte jetzt notdürftig auf der Bühne der Universitätsaula – und dann in einem guten Lokal am Rhein mit ihr feudal essen gehen. Sie freute sich auf diesen Abend, und sie wußte, daß an diesem 15. November zwischen ihr und Ellerkrug die Entscheidung fiel. Sie war bereit, Ja zu sagen.
Kurz nach 19 Uhr klingelte es an der Wohnungstür. Erna band einen Schal um die neue Frisur, zog das Cocktailkleid gerade und öffnete. »Du bist pünktlich, Heinrich!« wollte sie sagen, aber jeder Laut blieb ihr in der Kehle stecken.
Draußen im Hausflur stand ein fremder Mann. Nach vorn gebückt, elend, auf einen Stock gestützt, ein alter Wehrmachtsmantel umschlodderte ihn, dicke, schmutzige Stiefel, von denen der Regen tropfte, schienen den ganzen Körper zu tragen. Auf dem kahlgeschorenen Kopf saß verloren, fast lächerlich eine Schirmmütze, viel zu klein, durchnäßt, das Wasser lief aus ihr über das bleiche Gesicht und durch die Stoppeln eines graumelierten Bartes.
»Guten Abend …«, sagte der Mann. Er nahm seine Mütze ab wie ein Bettler. Auch die Stoppeln auf seinem Schädel waren grau. »Da bin ich wieder, Erna …«
»Ewald …«, stammelte Erna Kurowski. Und dann lauter, wie ein Aufschrei: »Ewald!!« Sie breitete die Arme aus, fiel nach vorn und stürzte in den nassen, weiten, alten, dreckigen Soldatenmantel.
Aus ihren Zimmern rannten die Kinder, als erster Ludwig, eine Eisenstange in der Hand. Sprachlos, verwirrt starrten sie auf den fremden Mann, den ihre Mutter umarmte und dessen vom Wetter zernarbtes Gesicht sie küßte.
14
Ewald Kurowski stand in der Diele der schönen, neuen Wohnung, blickte sich um und hatte Mühe, zu glauben, daß er zurückgekehrt war, daß er von jetzt ab sagen konnte: ich bin zu Hause.
Die Tür war hinter ihm zugefallen, Erna hatte ihm den weiten, dreckigen Mantel abgenommen, die nasse Mütze lag auf dem Fußboden, aber noch immer lief von seinen
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