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Aus den Papieren eines Wärters

Aus den Papieren eines Wärters

Titel: Aus den Papieren eines Wärters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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war. Auch erfolgte ein Erdstoß, der alles übereinanderwarf, so daß sich die Menschen laut schreiend an die Erde preßten. Er wußte, daß nun der Gott mit schrecklichen Wundertaten vom Kreuz gestiegen war, um endlich seine Rache zu vollziehen. Er erhob sich und ging hinaus. Er ließ sein Pferd bringen und ritt mit wenigen Begleitern hinweg. Die Pferde waren scheu, als wären 76

    sie in großer Angst. Die Straßen der Stadt waren leer, hinein-gesenkt in eine zerstörte Erde, auf der ein Himmel lastete, in welchem es keinen Tag und keine Nacht mehr gab. Die Gesichter seiner Begleiter waren fahl und die Helme wie Schnek-kenhäuser auf den kahlen Köpfen, in denen die Augen ohne Licht steckten. Auch erschrak er, als er seine Hände sah; denn sie waren wie fremde Spinnen, die sich um die Zügel seines Pferdes schlossen. Sie ritten aus der Stadt gegen den Hügel, auf dem die Kreuze standen. Sie kamen an Menschen vorbei, die mit angezogenen Knien am Wege hockten und laut und schnell sinnlose Worte sagten. Einige warfen sich vor die Rosse, doch ohne Schrei, worauf sie zerstampft von den Hufen liegen blieben. Die Palmen waren in der Mitte geknickt und die Ölbäume zerfetzt. Die Gräber in den Felsen waren weit offen, so daß die Leichen heraushingen und die beinernen Hände wie Fahnen in der milchigen Luft waren. Scharen von Aussätzigen wankten in flatternden Mänteln wie schwarze Vögel heran, und ihre Stimmen wehten wie schrille Pfiffe vorüber. Der Pfad stieg die Felsen hinauf. Er war mit zer-schmetterten Selbstmördern bedeckt, die sich von den Klippen geworfen hatten. Die Pferde wurden unruhiger, je näher sie der Stätte kamen, wo die Kreuze aufgerichtet waren, mit dem mittleren des Gottes, das leer und kahl in den Himmel ragen mußte, an das sich vielleicht der Gott selbst lehnte, nackt und schön, laut lachend, um den zu zerreißen, der nun heranritt.
    Noch immer stand die Sonne ausgebrannt und ohne Bewegung im Zenit, als gäbe es keine Zeit mehr. Auch hatte die Finsternis zugenommen, so daß er fast gegen das Kreuz prallte, das sich vor ihm steil in die Nacht hob, und nur mühsam stellte er fest, daß es das Kreuz des Gottes war. Schon wollte er sich abwenden, um weiter zu suchen; wie aber im Osten riesenhaft ein grüner Komet heraufzog, sah er, daß dieses Kreuz nicht verlassen war, wie er geglaubt hatte. Es waren die Füße, die er zuerst erblickte. Sie waren von einem Nagel durchbohrt, und 77

    wie sein Blick hinaufglitt, bog sich der Leib schwer mit langgezogenen Armen herab, die wild in den Himmel gereckt waren, und gerade über seinem Gesicht hing das tote Antlitz des Gottes.

    Als aber nach drei Tagen der Bote früh am Morgen zu ihm gekommen war, der ihm gemeldet hatte, daß der Gott sein Grab in der Nacht verlassen, so daß dieses leer aufgefunden worden sei, ritt er sogleich dorthin und schaute lange in die Höhle. Sie war leer, und der schwere Stein, der sie bedeckt hatte, lag zerbrochen auf der Erde. Langsam wandte er sich.
    Ein Sklave aber stand hinter ihm, und der sah dann des Pilatus Gesicht: Unermeßlich war es wie eine Landschaft des Todes vor ihm ausgebreitet, fahl im frühen Licht des Morgens, und wie sich die beiden Augen öffneten, waren sie kalt.

    78

    Die Stadt
    1947

    Aus den Papieren eines Wärters, herausgegeben von einem Hilfsbibliothekar der Stadtbibliothek, die den Anfang eines im großen Brande verloren gegangenen fünfzehnbändigen Werkes bildeten, das den Titel trug: Versuch zu einem Grundriß.

    Wenn die langen Nächte heransteigen, in denen die Winde beschworen werden, daß sie heulend über die Erde irren, sehe ich wieder die Stadt vor mir, wie an jenem Morgen, da ich sie zum ersten Male in der Wintersonne ausgebreitet am Fluß erblickte, der nahen Eisbergen entspringt und sie lautlos tief unter den Häusern umgleitet, indem er eine seltsame Schleife bildet, die nur gegen Westen offen bleibt und so die Form der Stadt bestimmt: Die Berge aber lagen damals wie in weiten Fernen im Dunst als leichte Wolken hinter den Hügeln, von wo sie den Menschen nicht zu bedrohen vermochten. Sie war von wunderbarer Schönheit und oft durchbrach in der Dämmerung das Licht die Mauern wie warmes Gold, doch denke ich mit Grauen an sie zurück, denn ihr Glanz zerbrach, als ich mich ihr näherte, und wie sie mich umfing, tauchte ich in ein Meer von Angst hinab. Auf ihr lag ein giftiger Nebel, der die Keime des Lebens zersetzte und mich zwang, mühsam nach Atem zu ringen, von einem quälenden

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