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Aus den Papieren eines Wärters

Aus den Papieren eines Wärters

Titel: Aus den Papieren eines Wärters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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war das Licht schwach. Das Haus aber, in welchem sich mein Zimmer befand, habe ich nie durchforscht. Wenn es auch von außen wie ein neuerer Bau aussah, so war es doch innen alt und zerfallen, mit Treppen, die sich im Dunkeln verliefen. Ich habe in ihm nie Menschen gesehen, obgleich viele Namen an die Türen geschrieben waren, unter ihnen auch der eines Sekretärs der Verwaltung.
    Nur einmal habe ich es unternommen, die Klinke einer Türe niederzudrücken, die unverschlossen war und in einen Gang führte, in welchem sich zu beiden Seiten Türen befanden. Es war mir, als vernehme ich ein von weitem dumpfes Sprechen, worauf ich wieder zurückwich und in mein Zimmer ging. Das Haus gehörte der Stadt, denn oft kamen Beamte der Verwaltung, doch verlangten sie nie Mietgeld, als wäre ihnen meine Armut selbstverständlich. Es waren Menschen mit einem leisen Benehmen, in seltsamen Fellmützen und hohen Stiefeln, und nie waren es die gleichen, die kamen. Sie sprachen von der Baufälligkeit des Hauses und daß die Stadt es abbrechen würde, wenn nicht die Wohnungsnot zu groß in den Vorstädten wäre. Auch kamen von Zeit zu Zeit Männer in dicken, weißen Mänteln, die Papierrollen unter dem Arm trugen und ohne ein Wort zu sprechen stundenlang mein Zimmer ausma-
    ßen, worauf sie mit spitzen Federn in ihren Plänen kritzelten und Linien zogen, doch waren sie nie aufdringlich und fragten nie nach meiner Herkunft. Sie kamen jedoch nur in mein Zimmer und nicht in die anderen Räume des Hauses, denn 82

    vom Fenster konnte ich beobachten, daß sie von der Straße zu mir hinauf kamen und das Haus wieder verließen, wenn sie die Arbeit auf meinem Zimmer beendet hatten. Die größte Zeit des Tages aber verbrachte ich am östlichen Fenster, von dem ich auf die große Straße sah, über die des Morgens die Bauern auf ihren Karren fuhren, um von den Höfen auf die Marktplätze zu gelangen. Sie saßen ohne Bewegung und in sich versunken auf den Fahrzeugen, deren gewaltige Räder Mann und Wagen weit überragten, so daß die wechselnden Schatten der Speichen auf die Leiber fielen. Manchmal trieben sie mit kurzen Worten die Kühe an, die vor die Karren gespannt waren. Auch zogen oft Kettensträflinge vorüber, von untersetzten Wärtern mit kleinen gelben Gesichtern begleitet, die riesenhafte Peitschen schwangen, doch blickte ich tagelang nicht aus meinem Fenster, wenn ich sie gesehen hatte. Am meisten aber schreckte mich ein zum Tode Verurteilter, der über die große Straße geführt wurde, um irgendwo zu sterben. Er war mit dem Rücken an einen Pfahl gebunden, der auf einem langen und schmalen Karren aus Holz befestigt war, dessen Räder aus nicht ganz runden Holz-scheiben bestanden, so daß sich das Fahrzeug seltsam schwankend über die Straße bewegte. Vor ihm schritt der Scharfrich-ter in einem roten Mantel und einer gelben Maske. Er trug das Schwert wie ein Kreuz, und schweigend schritten in langen, schwarzen Reihen die Richter. Der Verurteilte war hager und sang mit lauter Stimme ein eintöniges Lied in einer fremden Sprache, das ich noch lange hörte, und welches mich mit großer Trauer erfüllte.

    Erbaut, damit wir uns selbst am Grunde der Schrecken begegnen, lehrte sie mich, meine Grenze zu sehen, indem sie ihre Größe offenbarte. Ich erfuhr meine Ohnmacht durch ihre Macht und ihre Vollkommenheit durch meine Niederlage. Wir sind Menschen, nicht Götter. Wir erlangen zuerst durch Erfah-rung Einblick und dann erst durch das Denken. Wir müssen 83

    gefoltert werden, damit wir erkennen, und nur dem Schrei unserer Qual wird eine Antwort zuteil. So mag es denn wohl in dieser Einsicht der Verwaltung gelegen haben, daß ich den Aufstand des Kohlenträgers straflos mitmachen konnte – wenn er überhaupt beachtet wurde – mußte ich doch zuerst die Stadt in ihren letzten Schrecken erfahren, bevor ich in ihren Dienst treten, den Kampf beginnen, bevor ich ihn aufgeben konnte: Daß aber jeder Kampf gegen die Stadt hoffnungslos ist, erkannte ich erst, als die Rebellion an einem Irren scheiterte, an einem schwachsinnigen Menschen, den ich vorher schon oft mit der lächerlichen, steifen Fahne irgendeines Schützenver-eins alter Zeiten hatte durch die Stadt stampfen sehen, ein blödes Lächeln in seinem fetten Gesicht unter dem verbeulten runden Hut. Ich hatte damals mein Zimmer in der Vorstadt verlassen, wie ich es oft in den weißen Mondnächten tat, und war in einen Vorort eingedrungen, den ich selten betreten hatte. Zwar waren es die

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