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Aus den Papieren eines Wärters

Aus den Papieren eines Wärters

Titel: Aus den Papieren eines Wärters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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gleichen eintönigen Reihen der Mietskasernen, denen entlang ich wanderte, doch starrten sie mehr als in den anderen Vorstädten von Schmutz und Unrat.
    Ich sah in den dreckigen Höfen Liebespaare, die sich ineinander flüchteten, eins das andere umklammernd. Dirnen die sich für eine Kupfermünze verkauften, krochen wie Tiere herum, die Luft war erfüllt von ihrem krächzenden Geschrei. Ich schritt unter den erloschenen Reklamen der billigen Kinos hindurch, doch wurde die Vorstadt nun, wie ich weiter vor-drang, öder. Ich gelangte zu den großen Plätzen, die in die Betonwürfel der Mietshäuser eingesprengt waren, Wüsteneien, auf denen sich der Schutt türmte und viele Stellen mit dichten Grasbüscheln bedeckt waren. Auf einem dieser Plätze, durch dessen Mitte zwischen ungeheuren Kehrichthaufen und zwischen verrosteten Karosserien alter Automobile, die wie grasende Tiere herumstanden, die Schienen einer Straßenbahn liefen, sah ich schon von weitem einen Mann langsam einen Tanz beginnen. Die schwerfällige Gestalt hob sich scharf von 84

    der weiten, wie mit vorzeitlichen Trümmern übersäten Fläche ab. Zuerst bewegten sich nur die kurzen, dicken Beine in unbeholfenen und spitzen Figuren, doch wurde der Tanz wilder, und als er die überlangen Arme #breitete, die der Erscheinung etwas Gorillaartiges gaben, und als ein langer weißer Bart wie eine Glocke unter seinem Kinn schwang, erkannte ich, daß es der alte Kohlenträger war, sinnlos betrunken, der in der Nähe meines Zimmers wohnte. Ich sah dem Tanz des Alten zu und beobachtete seinen Schatten, der jede Regung des Leibes, der kurzen Beine und der langen Arme mitmachte und so die Bewegung im Raume auf der Fläche ergänzte. Ich bewegte mich unwillkürlich auf den Betrunkenen zu, auch bemerkte ich, daß von allen Seiten Menschen auf den Tanzenden zustrebten. Es waren Männer und Weiber, die in unordentlichen Kleidern kamen, ausgemergelte Gestalten, nach Fusel stinkend und wie aus einem bleiernen Schlaf geschreckt. Einige bemühten sich, den Tanz des Alten zu wiederholen, doch war kein Laut hörbar, obschon die Menschen so zahlreich wurden, daß sie nach und nach den Platz füllten, sich auf den Schutthaufen stauten und auf den Dächern der alten Automobile wie gespenstische Riesenvögel saßen.
    Auch sah ich nun das Gesicht des gewaltigen Alten deutlich, der nun, wie er seinen Tanz beendet hatte, sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte: Es war starr und die blutunterlaufe-nen Augen gläsern. Schon wollte ich mich abwenden, um weiterzugehen, als die Menschen sich gegeneinanderschoben, so daß die zerlumpte Masse dicht zusammengedrängt wurde, um sich dann vorwärts zu bewegen. Ich befand mich nicht weit hinter dem Kohlenträger, der die Menge anzuführen schien, doch konnte ich nicht sehen, wohin wir schritten. Ich sah mich dicht von den gespensterhaften Gesichtern der Männer und Weiber umgeben, hineingetaucht in den Branntweinatem ihrer Münder, doch gelang es mir, wenn auch mit großer Mühe, mich aus dem Gedränge zu befreien, worauf ich neben dem 85

    Alten an der Spitze des Zuges zu schreiten kam, widerwillig und ohne Möglichkeit umzukehren. Noch immer war mir der Stadtteil fremd, doch sah ich an der Veränderung der Gebäude, daß wir gegen die Stadt vorrückten. Die Häuser schoben sich näher zusammen und begrenzten die Straße lückenlos, auch wurden sie niedriger und die Dächer breiteten sich weit über die endlosen Reihen der Schreitenden, die sich wie in Schluch-ten bewegten. Die Menge zog ohne Laut durch Plätze und Gassen hinter dem Alten her, der hin und her torkelte, sich bald an mich klammerte, bald in jene zurückfiel, die in dichten Reihen hinter ihm herkamen und den Betrunkenen immer wieder nach vorne schoben, der nun mit einem Male zu lachen begann, laut und höhnisch. Es war ein meckerndes und trotzi-ges Gelächter, in welches wir einstimmten, wie befreit, als wiche mit diesem Lachen die Furcht von uns, die wir der Stadt gegenüber hegten. Die Bewegung der Masse beschleunigte sich. Wir stürzten mit Johlen und schrillen Schreien, mit Flüchen und Hohnworten dahin, doch zeigte sich in diesem Augenblick still und schweigend die Stadt, und so furchtbar war der Anblick und von einer solchen Majestät, daß wir verstummten. Die Stadt lag jenseits des Flusses, den eine lange und schmale Hängebrücke überspannte. Sie lag weiß im Mondlicht als ein ungeheurer Gletscher, den blaue Schatten zerschnitten, geduckt auf dem zweizackigen Fels

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