Aus der Dunkelkammer des Bösen - Benecke, M: Aus der Dunkelkammer des Bösen
Nur auf einem toten Nebengleis schlummern ein paar Güterwaggons vor sich hin. Sie sind, für die Bahn ganz unüblich, ebenfalls blitzeblank.
Endlich komme ich an. Am Ende des Sackbahnhofes steht Frau P. Sie ist eine energische, stämmige Frau mit blonder Dauerwelle. Man könnte meinen, dass sie auf dem pittoresken Bahnhöfchen, das jeden Sommer selbstbewusst mit üppigen Geranien-Rabatten verschönert wird, auf ihre Tochter wartet. Das würde passen, denn in dem kleinen Städtchen könnte die junge Frau gut bei ihren Eltern die Winterferien verbringen. Doch Frau P.s Tochter ist tot. Sie wurde erschlagen, erstochen und erhängt.
Als ihr Vater auf dem Dachstuhl des Hauses nach den Katzen sah, die dort an einem Giebel herumturnten, fand er seine Tochter. »Sie war eiskalt und ganz blau«, sagt er ohne sichtbare Regung. »Ich habe sie nicht aus dem Strick genommen, sondern bin sofort in die Firma gefahren, wo ein Telefon war. Dann kam die Polizei.« Doch das war nicht alles. Was an diesem bis dahin völlig normalen Tag begann, war einer der in die Wirklichkeit laufenden Albträume, die jeden Menschen um den Verstand bringen müssten.
Wie eine Familie mit dem Irrsinn eines ungelösten Mordes lebt, können Sie im Folgenden lesen. Sie werden schnell erkennen, dass in der Erzählung der Eltern alle Probleme der Ermittlungen deutlich zu erkennen sind: zu viele Spuren, zu viele Verdächtige. Dochanders als in den alten Krimis, in denen Nachdenken noch half, liegt die Sache hier anders. Wären die Spuren – Blut, Fasern, Haare, Fingerspuren – rechtzeitig gesichert worden, hätte man vielleicht nicht sofort den Täter ermittelt, aber zumindest sofort einige Personen sicher ausschließen können, die keine Spuren an dem an Spuren überreichen Tatort hinterlassen hatten.
Es lassen sich aus dem folgenden Interview auch weitere Fäden und Ermittlungsmöglichkeiten spinnen, beispielsweise zur Frage nach dem Motiv, die einen Kriminalbiologen nicht interessiert, dafür aber alle anderen Beteiligten. Am Ende des Textes werde ich dazu aus spurenkundlicher und psychologischer Sicht etwas sagen.
Lassen Sie aber zunächst die sehr eindringliche Schilderung der Eltern auf sich wirken. Denn darin ist nicht nur der vollkommenste Supergau nachgezeichnet, der eine Familie ereilen kann. Sie erkennen gleichzeitig, wie schwierig es ist, einen Fall zu bearbeiten, der auf einer festgefahrenen Grundannahme fußt – nämlich der, dass die Tochter von ihren Brüdern, ihrem Vater oder ihrer Mutter umgebracht worden sein muss. Hinzu kamen organisatorische Schwierigkeiten: Die Staatsanwaltschaft arbeitete mit grenzenloser Langsamkeit und Unlust, die Polizei wurde von internen Umgruppierungen gestört, und den erbosten Eltern hört schon lange niemand mehr zu. So kam es, dass der Fall bis heute nicht gelöst ist. Das ist deshalb so verrückt, weil alle Beteiligten noch leben und alle Spuren – wären sie denn eingesammelt worden – auch noch untersuchbar wären.
Am dramatischsten ist vielleicht, wie sich im Laufe der Jahre die Schlinge zuzieht – nur leider nicht um den oder die möglichen Verdächtigen, sondern um die Familie, die alles verloren hat, was sie besaß: Haus, Firma, ihre Tochter Melanie, Gesundheit und Seelenfrieden.
Vierzehn Jahre nach der Tat wurde erstmals ein Verdächtiger verhaftet. Er musste dann aber rasch wieder freigelassen werden, weil, so die Staatsanwaltschaft, die Ermittlungen doch noch nicht so weit waren, wie sie hätten sein müssen. Ob, wie oder gegen wen derzeit ermittelt wird, ist unbekannt. Aus diesem Grund habe ichauf Wunsch der Familie ausnahmsweise die Namen aller Beteiligten anonymisiert. Das Interview habe ich kurz vor der Freilassung des Verdächtigen aus der U-Haft geführt. Bitte wundern Sie sich nicht über die vielen Details – denn um die geht es ja …
Der Mord an unserer Tochter. Ein Interview mit den Eltern
Mutter: Derzeit sitzt ein Mann im Gefängnis, den sie kürzlich verhaftet haben. Das ist Melanies Exfreund gewesen. Mit dem war sie viereinhalb Jahre zusammen. Sie hat ihn Anfang 1994 kennengelernt, als wir umgezogen sind. Er war ein Jahr älter als sie und eigentlich immer bei ihr. Er war wie unser Sohn, wirklich, das kann ich nicht anders sagen.
Die beiden haben viel unternommen, waren viel mit der Clique unterwegs. Allerdings nur am Wochenende, da war Melanie sehr konsequent. Im Dorf ist ja auch sonst gar nichts. Ihre Freunde sind dann gekommen und haben Melanie abgeholt.
Ihr
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