Aus der Dunkelkammer des Bösen - Benecke, M: Aus der Dunkelkammer des Bösen
Macht über Leben und Tod seiner Gefangenen und wusste, dass sie ihn nie verlassen würden, weil er ihnen die Wahl dazu gar nicht erst ließ. Seine in der Kindheit entwickelte Fähigkeit, zwischen der »normalen« und »seiner persönlichen« Welt hin- und herzuwechseln, erlaubte ihm, über vierundzwanzig Jahre unentdeckt zu bleiben. Die Gutachterin Dr. Kastner beschrieb das mit den Worten: »Sobald er aus dem Keller rausgegangen ist und die Tür zugemacht hat, war es (damit ist sein zweites Leben mit der Familie im Keller gemeint) weg. Er hat die Möglichkeit gehabt, sein Leben oben unbelastet vom Leben unten zu leben.«
Ob in seinem Kopf oder dem Keller, den er als Teil seiner »zweiten Welt« baute: Immer ging es darum, sich das mit Gewalt zu holen, was er in seiner Kindheit schmerzhaft vermisst hatte: dauerhafte, verlässliche Liebe. Nur, dass Fritzl unter Liebe »jemand anderen völlig besitzen« versteht und eben nicht eine Beziehung aus Geben und Nehmen.
Blinde Herzen
Für die meisten Menschen ist es selbstverständlich, sich in andere Menschen einfühlen zu können, Zuneigung anderer wahrzunehmen und wiederum Zuneigung zurückzugeben. Das scheint für gesunde Menschen so selbstverständlich zu sein wie das Sehen, Hören und Atmen. Doch ein gefühlsmäßig gesunder Mensch zu werden, gelingt nicht jedem. Die Hirnbereiche, die für die Ausbildung dieser Fähigkeiten verantwortlich sind, können regelrecht verkümmern, wenn Kinder besonders in früher Kindheit Dinge erleben, die sie nicht verarbeiten können.
Manche Kinder, die vernachlässigt, misshandelt oder sexuell missbraucht werden, erkranken später an einer Depression, bekommen panische Ängste, hassen sich selbst oder entwickeln andere Auffälligkeiten. Entweder fallen sie durch ihren schwierigenUmgang mit anderen Menschen auf, werden beispielsweise sehr aggressiv und misstrauisch oder aber sehr selbstunsicher und unterwürfig. Oder sie entwickeln eine ungewöhnliche Art, sich selbst wahrzunehmen, beispielsweise als extrem überlegen und wichtig oder aber als völlig unterlegen und wertlos.
Oft haben diese Kinder auch Probleme damit, ihre Gefühle angemessen zu steuern; sie werden ungewöhnlich schnell tief traurig oder sehr wütend. Und einige wenige von ihnen werden, was auch Fritzl ist: gefühlsblinde, völlig selbstbezogene Sadisten. In Fritzls Kopf-Welt gibt es kein Mitgefühl und keine Einfühlung in andere Menschen, denn diese Gefühle hat er nie entwickeln können. Er kennt nur seine Bedürfnisse und deren sofortige Erfüllung. Trotzdem wusste er, dass sein Verhalten nach den Regeln der Gesellschaft falsch war und dass er selbst so nicht hätte behandelt werden wollen. Dennoch hat er sich frei dazu entschieden, so zu handeln.
Ein Mensch, der so extrem auf seine eigene Sichtweise und seine eigenen Bedürfnisse und Gefühle konzentriert ist, besitzt gar nicht die Fähigkeit, unter dem zu leiden, was er anderen antut. Weil er in seiner eigenen Sichtweise der Dinge feststeckt, hat er immer eine Erklärung für sein Verhalten. Seine Rechtfertigungen wirken auf Menschen, die eine normale Erlebniswelt haben, kalt und grausam. Das ist Menschen wie Josef Fritzl aber nicht bewusst, denn wer Gefühle wie Entsetzen oder Mitleid einfach nicht aus dem eigenen Erleben kennt, der kann auch nicht einschätzen, womit er diese bei anderen auslöst. Ein Beispiel dafür ist die Art, wie Fritzl die Vergewaltigungen seiner Tochter Elisabeth entschuldigt. Er beruft sich dabei auf seine Angst, Elisabeth nicht mehr alleine für sich haben zu können: »Ich habe ihr ja nur so viele Kinder gemacht, damit sie immer bei mir bleibt, weil sie ja als sechsfache Mutter für andere Männer nicht mehr attraktiv ist,« erklärte er der Gutachterin. Diese Aussage ist aus Fritzls Perspektive wahr und sachlich.
Gefangener der Vergangenheit
Es ist schon tragisch, dass Josef Fritzl sein Leben lang wirklich alles dafür tat, um seiner unschönen Vergangenheit zu entkommen, und ihm dies doch nie gelang. Denn in allem, was er tat, wurde er getrieben von den Gefühlen aus seiner Kindheit: der Angst davor, verlassen und nicht geliebt zu werden. Der Scham darüber, keinen Vater zu haben und arm zu sein. Der Hilflosigkeit, wenn seine Mutter ihn verprügelte. Der Wut und Einsamkeit und der Gier nach Macht über andere.
Fritzl schaffte es, dreiundsiebzig Jahre lang völlig unauffällig zwischen seinen Mitmenschen, Arbeitskollegen, Nachbarn und Bekannten zu leben, obwohl er zeitlebens ein
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