Aus der Welt
Vater seine Koffer vielleicht nicht gepackt. Und hätte seine negative Einstellung zu unserer Ehe vielleicht wieder geändert. Wir stehen so oft kurz davor, zu gehen, aufzugeben oder zu sagen: ›Das ist es doch alles nicht wert.‹ Aber ohne einen Auslöser … ohne dieses Etwas , das uns den Rest gibt …«
Ich ließ den Kopf hängen und schwieg. Mom beendete ihren Satz nicht, da sie jene kleinen Zuckungen überfielen, die auftraten, sobald sich der Schmerz wieder bemerkbar machte. Sie versuchte, nach dem Morphiumregler zu greifen, der am Infusionsständer neben ihrem Bett befestigt war. Aber ihre Hand zitterte so sehr, dass ich den Regler selbst aufdrehen und zusehen musste, wie sie sich der halbkatatonischen Euphorie überließ, die das Morphium hervorruft. Während sie in diesen chemischen Stupor wegdriftete, beherrschte mich nur noch ein Gedanke: Du kannst dich jetzt nach dieser Bemerkung einfach aus dem Staub machen … aber ich muss damit weiterleben .
Worte haben eine Bedeutung. Worte bewirken etwas. Worte brennen sich ins Gedächtnis.
Wir haben nie mehr miteinander geredet. Ich tröstete mich damit, dass sich meine Eltern noch nie ausstehen konnten und sich mein seit Langem abwesender Vater ohnehin von meiner Mutter getrennt hätte.
Aber wie ich inzwischen weiß, ist es etwas völlig anderes, zu verstehen , dass sich das eigene Leben von Grund auf ändert, als die furchtbare Realität dieser Situation zu akzeptieren . Die Stimme der Vernunft, die einem sagt: ›Folgendes ist passiert, es lässt sich nicht mehr ungeschehen machen, und du musst irgendwie damit leben‹, wird immer wieder von einer wütenden, sich überschlagenden Stimme übertönt. Von einer Stimme, die gegen die Ungerechtigkeiten des Lebens protestiert, gegen all das Unheil, das wir uns und anderen antun. Von einer Stimme, die unablässig flüstert: Vielleicht ist alles deine Schuld.
Neulich, in einer der vielen durchwachten Nächte – in denen nicht einmal mehr die starken Beruhigungsmittel halfen, von denen ich abhängig bin –, musste ich wieder an das Einführungsseminar in Physik denken, das ich im ersten Collegejahr besuchte. Zwei Vorlesungen lang beschäftigten wir uns mit dem deutschen Mathematiker und Physiker Werner Heisenberg, der Ende der 1920er-Jahre eine Theorie namens Unschärferelation aufgestellt hat. Die Details habe ich vergessen, weshalb ich um 4 Uhr 27 danach googelte, um mein Gedächtnis wieder aufzufrischen. Und siehe da, ich fand folgende Definition: »In der Quantenphysik besagt das Unschärfeprinzip, dass es unmöglich ist, die Position und den Impuls eines Teilchens gleichzeitig exakt zu messen, da der Messvorgang das System zwangsläufig beeinträchtigen würde.«
So weit die Theorie. Nach weiteren Recherchen entdeckte ich, dass Einstein ein entschiedener Gegner des Unschärfeprinzips war und es mit den Worten kommentierte: »Natürlich können wir die Position von etwas bestimmen. Wir können die Position eines sich bewegenden Teilchens bestimmen, wenn wir jede mögliche Eigenschaft kennen, und des Weiteren können wir vorhersagen, wo es sich hinbewegen wird.«
Er bemerkte auch relativ scharfsinnig, dass das Unschärfeprinzip im Widerspruch zur Allmacht Gottes stehe, und sagte: »Ich kann nicht glauben, dass Gott mit dem Universum würfelt.«
Aber Heisenberg und sein dänischer Kollege Niels Bohr (der Vater der Quantenmechanik) widersprachen Einstein mit dem Argument: » Es gibt keine Möglichkeit, gleichzeitig herauszufinden, wo sich ein in Bewegung befindliches Teilchen genau befindet und wohin es sich bewegt .«
Bohr fügte noch eine kleine höhnische Erwiderung hinzu und belehrte seinen Rivalen: »Einstein, hör auf, Gott zu sagen, was er tun soll.«
Während ich all das las (und die Sonne nach einer weiteren schlaflosen Nacht wieder aufging), ertappte ich mich dabei, für Heisenberg und Bohr Partei zu ergreifen. Auch wenn physikalisch gesehen alles aus Elementarteilchen besteht, woher wollen wir wissen, wohin uns ein bestimmtes Teilchen – oder jene Kombination von Teilchen, die wir Aktion, Vorfall oder eine andere Person nennen – bringt? Einstein, hör auf, Gott zu sagen, was er tun soll … denn in einem Universum, das allein dem Zufall überlassen ist, hat ER keinerlei Kontrolle.
Was mich am Unschärfeprinzip jedoch am allermeisten berührte, war, dass es mich zwang, an jenen Neujahrstag von 1987 zurückzudenken – und daran, dass Heisenberg aus der Sicht meiner Mutter recht hatte. Ein
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