Aus der Welt
wie ich eine Gänsehaut bekam. Ich riss mich zusammen. Nach einer Weile sah ich endlich auf.
Und was ich da vor mir sah, war …
Ein See. Er lag vollkommen still und heiter da, und ja, er war smaragdfarben. Der See erstreckte sich bis zu einer riesigen Wiese, die ihrerseits bis zu den steil aufragenden Bergen reichte. Es war ein außergewöhnlich schöner Tag. Der Himmel war knallblau und wolkenleer. Die Sonne, die mich erst blendete, tauchte alles in ein honigfarbenes Licht. Die Helligkeit zwang mich, den Kopf zu senken, aber dann hob ich ihn erneut. Der See war ein topografischer Glücksfall. Er nahm die Bühne eines Amphitheaters ein, das aus lauter schneebedeckten Gletschergipfeln bestand. Das Panorama war so unberührt und vollkommen, dass mir die Tränen kamen. Ich hatte es geschafft, mir den See anzusehen. Das konnte alles und nichts bedeuten. Vielleicht auch nichts. Aber ich hatte aufgeschaut. Ich hatte den See gesehen. Und das war schon mal ein Fortschritt.
»Danke«, sagte ich zu Vern, und meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Da tat er etwas Unerwartetes: Er nahm meine Hand. Wir schwiegen minutenlang. Ich wandte den Blick vom See ab und sah in den Himmel. Plötzlich kehrte von irgendwoher die Erinnerung an eine besonders schlaflose Nacht vor ein paar Monaten zurück: Ich war hellwach, traurig und hatte das Gefühl, in einer Welt ohne jeden Halt zu leben. Ich surfte im Internet, um die Zeit bis zum nächsten Morgen totzuschlagen. Auf einmal beschloss ich, das Wort »Ungewissheit« zu googeln – und stieß dabei über Umwege auf einen mehrseitigen Eintrag über einen deutschen Physiker namens Werner Heisenberg. Er war der Vater des Unbestimmtheits- oder Unschärfeprinzips und hatte die Hypothese aufgestellt, dass es in der Physik »keine Möglichkeit gibt, gleichzeitig herauszufinden, wo sich ein in Bewegung befindliches Teilchen genau befindet und wohin es sich bewegt«.
Das ist Schicksal , dachte ich: eine rein zufällige Anhäufung von Teilchen, die uns an ungeahnte Orte bringt. Nicht umsonst ist die gesamte menschliche Existenz von Unschärfe oder Unbestimmtheit, sprich: von Ungewissheit, geprägt. Aber jetzt, wo ich in den knallblauen Himmel starrte und sah, wie er sich im See spiegelte, fiel mir noch ein Zitat von dieser Website ein. Es betraf die Erkenntnis eines anderen Physikers, nämlich die, dass der Weltraum ein Feld linearer Gleichungen ist. Der Pragmatiker Heisenberg wollte nichts davon wissen.
Wie lautete gleich wieder seine berühmte Erwiderung?
Plötzlich hörte ich mich laut sagen: »Der Weltraum ist blau, und darin fliegen Vögel.«
»Wie bitte?«, sagte Vern und versuchte, aus diesem zusammenhanglosen Satz schlau zu werden.
Ich sah ihn an, lächelte und sagte erneut: »Der Weltraum ist blau, und darin fliegen Vögel.«
Vernon Byrne überlegte und meinte schließlich: »Dagegen lässt sich nichts einwenden.«
Und wir bewunderten weiterhin den See.
Weitere Kostenlose Bücher