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Aus Liebe zum Wahnsinn

Aus Liebe zum Wahnsinn

Titel: Aus Liebe zum Wahnsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Cadeggianini
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es waren Weihnachtsaufnahmen, immer der gleiche Bildausschnitt: »Das sind meine«, sagte sie, und ihr Gesicht leuchtete. Immer zum Fest kam die Verwandtschaft aus ganz Italien zu den Nonni nach Florenz. Und immer am 25 .  12 . stellten Kinder und Kindeskinder vor dem Fresko der Nonna die Heilige Familie nach. Neben jedem Foto rechts unten stand nichts weiter als die Jahreszahl und »G.b.«, daneben ein Vorname. » 1967 G.b.: Luigi«
    »G.b.?«, fragte ich.
    »Na, G.b., Gesù bambino«, sagte die Nonna, »das Kind in der Krippe, das Jesuskind.« Und wirklich, da lag fast jedes Jahr ein neues Baby in der Krippe. Ich lächelte und blätterte mich durch die Jahrzehnte. Obwohl Maria und Josef, Hirten und Schafe verkleidet waren, bei Schuhen, Frisuren und Fotopapier gingen die Krippenaufstellungen mit der Mode. In den achtziger Jahren tauchten ein paar Weihnachtsfeste lang zwei Palästinenser mit PLO -Tüchern auf. In den Neunzigern wurde es immer dünner mit neuen Jesuskindern. Mal lagen Vorschulkinder in der Krippe, mal blieb sie ganz leer, »G.b.: – «. Im Jahr 2000 dann endlich wieder ein frisches G.b.: der Milleniumsjesus, ihr Enkel, auf den sie jetzt aufpasste, während das Krippenpersonal schon durch die Pubertät wütete. Nur das Fresko blieb immer gleich. Ein paar Jahre später kopieren wir diese Tradition des Weihnachtskarnevals. Immer im Advent formieren wir unsere Kinder zu einem belebten Christbaum. Die Rollen sind: Stamm, Äste, Zweige, Christbaumspitze. An Finger, Zehen und Ohren hängen Christbaumkugeln. Und der g.B. (gute Baum) wird immer größer und dichter.
    Ich gab der alten Dame das Album zurück. Sie lächelte. »La famiglia.« Jetzt sah sie wieder meine beiden Mädchen.
    »Che spettacolo! Questi occhi.« Sie machte eine kurze Pause, senkte die frenetische Stimmlage um zwei Oktaven: »Heute ist das natürlich alles anders. Familie und so. Schwierig.« Sie nickte mit ihrem Kopf Richtung Kolonialwagen. »Aber jetzt reicht’s. Zwei, und basta. Hörst Du? Ihr seid doch keine Zingari.«
     
    »Soll ich noch Vongole holen?«, frage ich in Richtung Viola, diese kleinen Venusmuscheln, und will schon zur Tiefkühltruhe schlendern. Aber Viola macht ein Geräusch, als ob sie in was reingetreten wäre, und zieht die Nase kraus.
    »Ich dachte, du magst die?«, sage ich.
    »Ja, schon«, meint sie, aber lieber frisch, und der Monat habe kein »r«, also dürfe man nicht; und außerdem habe sie momentan ohnehin keine Lust auf Meeressachen, sie habe da neulich auch irgendwas Komisches gelesen drüber. Und wir hätten doch noch so viel Fleisch.
    »Hm«, sage ich ein wenig missmutig und überhöre in meinem enttäuschten Muschelappetit die Hauptnachricht: Hier lenkt jemand ab. Das waren mindestens zwei Gründe zu viel.
    »Schau mal hier«, sagt sie jetzt (Dass mir nichts aufgefallen ist. Jetzt lenkt sie auch noch richtig ab). Sie hält »Nipiol Cavallo« hoch und hat mich – keiner kennt mich so gut wie sie – sofort gefangen. Nipiol Cavallo belegt Platz 3 auf meiner Liste: Supermarktprodukte zum Staunen und Freuen. Eine junge braune Stute blickt vorwurfslos von der rapsgelben Umverpackung, im Hintergrund grüne Weidehügel. Zusammen sind wir stark, soll dieses Bild sagen. Wir, das heißt: Das Pferd, das gerade erst aus dem Fohlenalter rausgewachsen ist, kräftig, gesund, nahrhaft auf der einen Seite und das Baby auf der anderen Seite, hungrig, im Wachstumsschub, mit liquiden Genen. Ich lese im Kleingedruckten, tatsächlich: Da ist Pferdchen im Gläschen. »Zwei mal 80  Gramm, glutenfrei, kräftiger Geschmack, ab dem 4 . Monat.«
    Warum eigentlich auch nicht? Italien ist Pferdefleischeuropameister, eigene Kühleinheiten im Supermarkt sind mit »Equina« betitelt. Warum soll es in einem solchen Land keine Pferdegläschen für die Kleinsten geben? Ist Babynahrung nicht schon längst regionalisiert? Natürlich essen finnische Babys schon zum Frühstück Lachsmousse. Und natürlich gibt es das dort aus dem Supermarktgläschen. Andersherum habe ich noch nie ein Inuitbaby mit Frühkarotten im Schälchen gesehen. Aber sonst? Gibt es in Thailand Heuschreckenflocken? Glutenfrei? Fish-and-chips-Gläschen in Schottland? Dönerkebabbrei in Neukölln?
    Nipiol Cavallo auf jeden Fall zeugt von hohem Selbstbewusstsein und Nationalstolz. Wer Italiener werden will, muss früh anfangen. So wie Viola, halbe Auslandsitalienerin in zweiter Generation, die sich jetzt mit einem Gläschen-Doppelpack in der Hand in die

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