Aus Liebe zum Wahnsinn
spitzen Bauchform während der Schwangerschaft auf einen männlichen Nachkommen. »Sicurissimo.« Der Frauenarzt lobte leichtsinnigerweise eine Flasche Champagner aus, für den Fall, dass er falsch liegen würde. Prost!
Die größte Überraschung an unserem ersten Kind waren wir selbst. Wir hatten anfangs ein wenig übertrieben, mit dem Sichselbsttreubleiben, absichtlich. Auf Partys waren wir – obwohl die einzigen Eltern, das Kind in der Besenkammer – eine Zeitlang ständig die Letzten. Gegen den Strom durchhalten. Beim Münchner Filmfest – Gianna war gerade ein halbes Jahr alt – gingen Viola und ich abwechselnd ins Kino, manchmal auch zu dritt. Insgesamt 28 Mal in einer Woche. Mussten wir uns was beweisen? Ja, wahrscheinlich schon. Richtig souverän sah das alles nicht aus. Ein Parforceritt ums Jungsein. Wo liegt die Grenze zwischen lässig und verantwortungslos? Zwischen sorglos und leichtfertig? Und wie verkrampft ist eigentlich ständige Lässigkeit?
Immer dann, wenn das Leben auf den Kopf gestellt wird, ist der Rest der Menschheit besonders nachsichtig. »Veränderungen bringen eben Probleme mit sich«, sagen die Leute. »Anpassungsschwierigkeiten«, heißt es dann. Ganz normal. Nur wenn das gesamte System aus den Fugen gerät, wenn Menschen also Eltern werden, dann weiß plötzlich Gott und die Welt, wie sie sich fühlen: Die müssen platzen, permanent, und zwar vor Glück. Als ob man als Vater oder Mutter plötzlich ein besserer Mensch werden würde.
Alles wird anders? Heute denke ich: 6 . 20 Uhr aufstehen, dem Kind das dritte Hanuta wegnehmen und nicht sofort zurückgiften, wenn es pampig wird. Fertig. Keks statt Koks halt.
Die Schaukel quietschte. Ich setzte mich auf eine der Erwachsenenbänke. Ächzte.
»Wie alt?«, fragte die Oma neben mir, zerrte am Kolonialwagen rum und weckte Elena auf. Na, toll. Das war nicht der Plan gewesen. Doppeltoll.
Nicht, dass es sie nicht gab, nicht dass sie nicht auch Mütter waren, die schönen, jungen Italienerinnen. Aber auf dem Spielplatz waren sie nicht. Heute nicht, morgen nicht und das ganze Jahr nicht. Und ich hockte, schubste Schaukeln, baute Burgen.
Die Italienerinnen gehen arbeiten, häufig schon einen Monat nach der Entbindung, viele ganztags. Und weil die Betreuungsangebote für Kleinkinder in Italien grotesk miserabel sind, kümmern sich die Großeltern um den Nachwuchs. Der Nonno steht an Rutsche oder Klettergerüst, die Nonna tröstet Enkel, putzt Händchen und Näschen und schimpft mit dem Nonno, dass sich der Enkel nicht so schmutzig machen soll. Oder sie zerrt an meinem Kolonialwagen.
Elena brüllte. Die Nonna strahlte. Was für Augen! Und was für ein wackeres Stimmchen. Sie patschte über Backen, Haare, Ohren. (Na, toll. Hallo? Sehe ich so aus, als ob ich stillen könnte? Eigentlich hätte Elena locker noch in die Mittagspause hineingeschlafen. Aber jetzt?)
Viola und ich hatten extra Handys besorgt, ja klar. Es waren unsere ersten. Damit zu telefonieren war aber noch deutlich zu teuer für uns studierende Jungeltern. Als ich einmal nebenbei eine kleine Geschichte für ein deutsches Magazin schreiben durfte, holte ich mir einen Sack Gettoni und recherchierte von der Telefonzelle aus. Für den Alltag mit einem Stillkind und der Mutter in der biblioteca nazionale hatten wir Morsezeichen ausgemacht. Wachte Elena auf, ließ ich es zum Beispiel einmal anklingeln, machte einen Squillo. Ein Squillo bedeutet: »Du kannst weitermachen, sie ist zwar wach, brüllt vielleicht ein wenig rum, aber alles unter Kontrolle.« Klingelte Viola zurück, hieß das: »Ich komme in der nächsten Viertelstunde raus; Treffpunkt Piazza Santa Croce.«
Zwei kurze Squilli hintereinander bedeuteten: »Buch und Stift fallen lassen, sofort rauskommen, ich stehe mit brüllenden Kindern und ohne jeden Rat beim Pförtner, der mich nicht reinlassen will.« Durchklingeln lassen hieß: »Ich prügele mich gerade mit dem Pförtner.«
Unsere Anklingel-Morsekommunikation war ein ausgefeiltes System aus Klingellänge, -takt, Rückrufen und Zweit-Anklingeleien. Essen, Stillen, Lieben: Alles per Squillo.
Die Nonna vor mir hatte sich von der brüllenden Elena abgewandt, sah jetzt – schlief denn ihr Enkel, oder was? – die wasserblauäugige Gianna. Sie sagte das, was ich in diesem Jahr Italien noch oft hörte: »Was für herrliche occhi celesti! Phantastisch. Che belli, questi bimbi. Das sind beide deine? Wahnsinn.« Die Nonna holte ein Album aus der Tasche,
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