Aus Liebe zum Wahnsinn
Secondo.«
»Secondo?«
»Secondo!«
Mehrgangterror!
Ich hätte bereits schon sehr viel gegessen, sicher es hätte phantastisch geschmeckt, und sicher: Ich wäre auch neugierig darauf, was es als Secondo gebe, aber jetzt – und ich jaulte mit Hundeblick nach Mitleid – ginge es einfach nicht mehr, ich sei total satt, voll, Schluss.
Eine kleine Pause entstand, als ob jemand das Bild eingefroren hätte, als ob jemand laut gerülpst hätte und keiner wusste, wie er reagieren sollte. Aber Zia Anna schaute nicht böse, gar nicht. Warum sollte sie auch? Ich hatte viel gegessen, ich war satt. Basta. Wenn es etwas aus dem Garten gewesen wäre, okay. Aber so?
Sie schaute auf, blickte mich an. Und da entdeckte ich eine Abwesenheit in ihrem Blick. Sie schaute ein wenig unverständig, so, als ob sie versuchte, sich zu erinnern, welche Worte da gerade durch die Luft geflogen waren. Hatte überhaupt jemand was gesagt? Bei einem Computer wäre vielleicht ein kleines Fenster in der Bildschirmmitte erschienen: »Ein schwerer Systemfehler ist aufgetreten. Der Prozess wurde unerwartet beendet.« Auf einmal ging ein Ruck durch das Gesicht von Zia Anna, ein Kaltstart, sie wurde neu gebootet: »Als Secondo gibt es Bistecca alla Fiorentina, kurz Fiorentina.« Fiorentina ist fleischgewordene Maßlosigkeit: armdick, tellergroß, vom Rind. »Innen muss sie bluten, als ob du dir gerade in den Finger geschnitten hättest«, erklärte Fabio. Ich konnte seinen Ausführungen über Geschichte und Zukunft des toskanischen Nationalgerichts kaum folgen, geschätzte 97 Prozent meines Körperbluts hatten sich in die Magenschleimhäute zurückgezogen, der Rest meines Körpers fuhr auf Notversorgung.
Zia Anna grinste mich an, ihren Schwiegerneffen, den großen Deutschen, den Unersättlichen, der nach einem zweiten Primo gegiert hatte. Dann nahm sie meinen Teller.
»Il signor doppio?« Der Doppelmann.
Und dann saß ich da, mit meinen zwei Kindern, denen ich Vorbild sein wollte, mit zwei angeheirateten Verwandten, bei denen ich zum Essen eingeladen war, mich zu benehmen versuchte und noch Monate lang, drei Häuser weiter wohnen würde, mit meiner zauberhaften Frau, die nichts unternahm, um mich zu retten. Ich saß vor einem lenkradgroßen Teller, auf dem Z-W-E-I gigantische Fleischstücke lagen. Das eine war so groß wie ein Pferdearsch, das andere hatte die Umrisse Australiens, gefühlter Maßstab 1 : 1 . Dort lagen keine Fleischstücke, das war ganzes Fleisch.
Im Italienischen sind das Tier und sein Fleisch vollkommen anderen Wortursprungs. Während wir Deutschen dem Huhn, Rind und Schwein einfach ein »-fleisch« anhängen und es auch so auf den Teller kommt, bleiben in Italien gallina, mucca, maiale schön in Stall und Käfig, gegessen wird pollo, manzo, suino. Ändert das was an unserem Verhalten? Sind Deutsche deswegen tierfreundlicher? Sehen sie im Fleisch noch das Tier? Haben sie Mitleid?
Auf einmal fühlte ich mich ganz deutsch, total verbunden mit dem Rind, nicht nur sprachlich. Ich wollte es wiederbeleben. Ich wusste auch nicht, warum. Das war so eine Art Bauchgefühl. Ich spürte es von ganz tief drinnen, aus der Magengegend, Richtung Lasagne. Und dann hörte ich etwas. Zuerst ganz leise. Ich nahm den Kopf ein wenig runter, versuchte zu verstehen. Was die Lasagne mir wohl sagen wollte? Vielleicht war es etwas Wichtiges, vielleicht war dieses vielschichtige Essen viel intelligenter als gemeinhin angenommen? Ich krümmte mich, entlastete die Bauchdecke, führte mein Ohr Richtung Nabel, dass ich sie besser hören konnte. »Du Depp!«, fauchte da auf einmal die Lasagne. »Natürlich gibt es ein Secondo. Primo, Secondo – wir sind hier eben in Italien. I-T-A-L-I-E-N! Hast du das schon mal gehört?«
Der Plan war gut gewesen. So ist das meistens, wenn man enttäuscht wird. Dann muss vorher auch was besser gewesen sein, zum Beispiel der Plan. Und jetzt saß ich auf dunkelgrauem Hartgummi, so ein unansehnliches Granulatgemisch, vielleicht einer der ersten Wiederverwertungsversuche von unserem Plastikmüll, auf einem Spielplatz in Florenz, und die Schaukel quietschte.
Der Plan war: Während Viola in Bibliotheken, Hörsälen oder im Arbeitszimmer sitzt und an Zukunft und Beruf schnitzt und schmirgelt, hänge ich mit den zwei Kindern in der Sonne rum, fläze lässig an der Theke, spreize den kleinen Finger von der Espressotasse und werde Italiener. Und ab und zu würde ich schönen Italienerinnen hinterherschauen. Wirklich
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