Aus Liebe zum Wahnsinn
Andererseits, dachte ich … und kam nicht weit. Denn Patachon hatte schon angebissen. Er sagte, ich müsse.
Patachon war es, mit dem ich vor gut einem Vierteljahrhundert einen Pakt eingegangen bin. Patachon ist es, der, zusammen mit dem anderen CYL -Agenten Hannibal, bis heute in mein Leben reinpfuscht. Mit Recht. Denn ich habe mich vertraglich verpflichtet, nicht normal zu sein. Ich darf das einfach nicht mehr. Noch schlimmer: Ich habe es mir selbst gewünscht. Und schuld daran ist Patachon.
Patachon war unser Hausfisch: Klein, dick und tot, seit mehr als 25 Jahren. Patachon wurde 127 Tage alt. In seinem kurzen Leben hatte ich, damals acht, öfters Gelegenheit gefunden, mit ihm zu sprechen. Ich: platte Nase gegen Aquarium. Er: dummes Goldfischgeschaue. Wir mochten uns.
Ich machte mir Gedanken übers Älterwerden. Jugendlich, das ging ja noch. Aber erwachsen? Erwachsenwerden, das bedeutet doch, dass ein Fremder mein Leben kapert. Und dann unter fremder Flagge auf meinem Schiff durch mein Leben tuckert. Und ich? Ich liege irgendwo geknebelt im Maschinenraum.
Patachon verstand mich.
Auch er dachte übers Älterwerden nach. Ein Goldfischjahr entspricht etwa einem Hundejahr, nur mit deutlich weniger Gassigehen. Goldfische können bei sachgemäßer Pflege also durchaus 15 Jahre alt werden. Das erzählte ich Patachon. 15 Jahre, das sind 272 Großpackungen Sera Goldy Flockenfutter. Mehr als vier ganze Aquarien voll, ohne Wasser, Pumpe, Filter, nur Sera Goldy bis zum Rand!
Patachon wedelte aufgeregt mit der Schwanzflosse, drehte ein paar Runden im Aquarium. Dann schlug er mir jenen Pakt vor, der mein Leben bis heute bestimmen sollte.
An Pflege, Zuspruch und Liebe sollte er niemals Mangel leiden, ich sollte immer gut auf ihn aufpassen. Ich nickte ins Aquarium. Und er? Was würde er dafür tun? Er würde mir beim Jungbleiben helfen, gegen das Normalwerden kämpfen. Während die Jahre ins Land zögen, würde er mich warnen, schütteln, anschwimmen, sobald ich Dinge täte, die ich eigentlich nicht tun wollte. Rauchen zum Beispiel, Krawatten tragen, sich scheiden lassen oder den Rotz durch die Nase in den Mund ziehen – Kinderhorror eben.
Gut, Patachon. Abgemacht.
Wenn jemand Patachon heißt und noch dazu im Aquarium lebt, ist offensichtlich, dass er da nicht allein sein kann. Und ja, es gab den anderen. Und ja: Er hieß Pat. Unsere beiden Fische: Der eine hatte den anderen. Und der andere den einen. Wir beobachteten sie, liebten sie, fütterten und überfütterten sie und klopften mehr als 20 000 -mal an die Scheibe.
Dann kamen die großen Ferien. Abschiedszeit. Ich besprach das Aquarium, klopfte, besorgte schweren Herzens einen automatischen Fischversorger: Ein Plastikschaufelrad, das sich langsam über dem Aquarium drehte. In jedes Segment füllte ich eine Tagesration Fischfutter, die ins Wasser rutschen würde – so stand es in der Anleitung – , wenn sich das Futterrad weit genug gedreht hat. Zugegeben, es war ein sehr günstiger Zeitschaltfütterer, aber Gott: Ich hatte wenig Geld.
Als wir aus dem Urlaub nach Hause zurückkamen, schwamm Patachon bäuchlings, Pat trieb mit der Strömung unserer Juwel-Pumpe, sein kleines Köpfchen stieß immer wieder gegen den Trixie M 60 -Filter. Das Kondenswasser hatte sich mit den Sera Goldy Flocken zu einer Fischfutterklebemasse amalgamiert. Es war nicht mehr aus dem Rad zu bekommen, weder von der Schwerkraft, die wochenlang Zeit hatte, noch von mir danach mit Wut, Schmerz und Schraubenzieher.
Pat war tot. Die ganze Familie, meine vier älteren Brüder, mein jüngerer Bruder, meine Mutter und mein Vater, alle braungebrannt und super erholt, kamen zusammen: in der Mitte, der kleine, reg- wie leblose Fischkörper. Wir wimmerten, zimmerten einen Mini-Sarg, hoben noch am selben Tag ein Minigrab im Garten aus, schrieben auf eine Minimarmortafel mit Edding: »Hier ruht in Frieden Pat.« Einer meiner Brüder hielt eine ergreifende Minirede.
Fünf Tage später starb Patachon. Er landete in der Mülltonne, in der großen, schwarzen.
Ich weiß, unverzeihlich. Aber irgendwie war beim Thema Fischtod bei uns die Luft raus. Nach dem großen Tamtam um das Ende von Pat war unser Bedarf an Fischbeerdigungen zumindest für die Woche, sagen wir, gedeckt. Außerdem war schönes Wetter, und wir wollten raus und spielen.
»Alles Ausreden«, ätzte Patachon, »falb und faul.«
Er hat es mir nie verziehen. Und er hat seine ganz eigene Rache: Bis heute hält er sich penibel an
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