Aus Liebe zum Wahnsinn
nicht mal, wenn sie bergab führt. Hauptsache entscheiden, irgendwie, Hauptsache anfangen, ins Handeln kommen, verändern. Natürlich kann es sein, dass der kaminrote Hochglanzlack für die Zimmertüren sich als zu gewagt herausstellen wird; dass meine Boxhandschuhe wieder bei Ebay landen; dass Edinburgh nicht unsere zweite Heimat wird. Aber deswegen auf der Couch hocken bleiben vor graugrün lasierten Altersheim-Türen und sich immer mal wieder fragen: Warum habe ich es nicht getan?
Wer auf der Couch hocken bleibt, hat Angst. Er ahnt, dass was anders läuft als geplant, verfällt in Lähmung und starrt in eine dunkle Zukunft. Ahner sind Menschen, die sich einreden, dass der, der immer mit dem Schlimmsten rechnet, gut gewappnet sei gegen alle Unbill des Lebens.
Das ist Quatsch. Denn die Unbill kommt natürlich trotzdem. Der ist die Rechnerei egal.
Aber schließlich, argumentiert der Ahner, bleibe der psychologische Vorteil: Ich bin schon mal darauf eingestellt.
Auch das ist Quatsch. Denn erstens vergessen Ahner, wie viel Lebensmut auf dem Weg kaputtgeht: Mit dem Schlimmsten rechnen, bedeutet eben nicht nur immer mal wieder positiv überrascht zu werden, wie toll das Leben doch funktioniert, sondern vor allem: sich fortwährend auszumalen, was alles nicht funktionieren könnte. Das ist gar nicht witzig, sondern schlimm für die Seele.
Und zweitens nehme ich es den Ahnern nicht ab. Ich glaube, die rechnen gar nicht wirklich mit dem Schlimmsten. Ahner haben Angst. Okay. Aber ihre Bewegung ist falsch. Sie kümmern sich nämlich gar nicht um das, was in ihnen vorgeht, sondern polieren stattdessen am Außenbild herum. Sie brabbeln ihren »Könnte das nicht auch alles schief gehen?«-Quatsch, glauben ihn aber selber nicht. Ahnen ist prophylaktisches Besserwissen.
Ich will nie wieder ahnen. Ständig warnen und alarmieren Ahner vor etwaigen miesen Entwicklungen. Wenn’s dann scheiße läuft, kommt auch noch der Hab-ichs-nicht-gesagt-Müll vom Ahner on top. Widerlich.
Egal, was schiefgeht: Immer ist da jemand, der das schon im Voraus gewusst hat.
Letztlich entschieden wir uns für Edinburgh, und das noch bevor die Kinder ihren Mittagsschlaf beendet hatten. Irgendwann lachte mir Viola ins Gesicht: Mit Billigfliegern zum Professor nach München fliegen, die Kinder in ausländische Kitas schicken, die wichtigen Bücher kopieren. Und Edinburgh, da kam doch auch jene Freundin eines sehr guten Freundes her. Da gab es doch auch dieses DAAD -Stipendium, für das ich mich noch bewerben konnte. Okay.
Als sich ein paar Wochen später unser drittes Kind ankündigt, ungeplant, bekomme ich noch mal kurz Atemnot. Ein Kind im Ausland bekommen? In Schottland? Im britischen Gesundheitssystem? Auch noch das Dritte? Diese zur Zahl geronnene, strategische Überforderung: Wenn die Kinder plötzlich in der Mehrheit sind. Wenn die Eltern von der Manndeckung in die Raumdeckung müssen. Schafften wir das? Wirklich?
Aber Hannibal und Viola standen schon parat. Er brüllte. Sie schubste. Und ich sprang. Ich bin verantwortlich für das, was ich tue. Ja, das stimmt. Und manchmal passiert mir dabei auch Mist. Das falsche Wort im Streit. Die Milchkanne, die ich mir unter den Arm klemme, nur weil ich zu faul bin, zweimal zum Frühstückstisch zu laufen, und die dann wegrutscht. Die sauteuren Walkie-Talkies mit extra Raumüberwachung, die uns Eltern fast grenzenlose, zumindest 700 Meter weite Babyfon-Freiheit schenken sollten und kein einziges Mal zum Einsatz kamen. Sicher gibt es Dinge, die bereut man, getan zu haben. Aber ich bin fest davon überzeugt, dass das alles nichts ist gegen die Dinge, die man bereut, nicht getan zu haben.
»Und warum bitte wollen Sie mit bald drei Kindern Ihre Abschlussarbeit über Søren Aabye Kierkegaard ausgerechnet in Edinburgh abfassen?« Die Professoren und DAAD -Angestellten saßen in Hufeisen-Form um mich herum, hatten meinen Lebenslauf auf ihren Tischen liegen. Ihre Gesichter sagten: Komischer Kauz, der da. Ich stolperte ein wenig in der Antwort herum, fabulierte von schottischen Kierkegaard-Forschungsschwerpunkten, lobte die internationale Ausrichtung meiner kleinen Jesuitenhochschule.
»Interessant«, sagten die Kommissionsmenschen. Aber warum ich es mir denn um Himmels willen so kompliziert machen wollte. Ein drittes Kind, eine Familie, ein Studienabschluss – das allein seien doch alles schon große Kaliber: Warum dann auch noch Edinburgh? Dann hörte ich mich sagen: »Das ist unsere letzte
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