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Aus Liebe zum Wahnsinn

Aus Liebe zum Wahnsinn

Titel: Aus Liebe zum Wahnsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Cadeggianini
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Augen.
    Und Zio Roberto schießt und schießt und schießt. Da steht er wieder in den Jagdfarben der Saison, noch deutlich vor Sonnenaufgang im wildüberbevölkerten, eingezäunten Terrain. Das Gewehr im Anschlag, die dunkle, große Brille auf der Nase. Frau und Förster gehen in Deckung, ein Horn bläst, hätten sie ein Ciubuciubu, würden sie sicher auch das noch mitnehmen. Zio Roberto steht direkt vor dem Futterplatz. Schuss frei für den blinden Jäger. Ein Rascheln dort im Unterholz. Roberto ballert. Schießt er nach Gehör? Sagt ihm jemand, in welcher Richtung überhaupt der Wald liegt?
    Irgendwann werden ein, zwei Tiere vor Schreck oder von Kugeln getroffen tot umfallen, die dann unter großem Weidmannsheil und Weidmannsdank und Schulterklopfen in den Vierradantriebsjeep gezerrt werden – in den, den man so gut reinigen kann.
     
    So schlimm sei es noch nie gewesen, sagte Zia Teresina am Telefon. Sie sprach von Regentropfen so groß wie Tischtennisbälle. Und sie beide, Roberto und sie, waren über das Brückenwochenende mal wieder im falschen Haus. Am Meer. Wie die Lage bei uns in der Stadt sei? Die Regentropfen zumindest noch ganz normal, meinte ich. Aber sonst: irre Blitze und Donner, aber fast schon vorbei. Teresina senkte die Stimme: Ob ich ihr einen riesigen Gefallen tun könnte?
    Eine Stunde später stand ich in Robertos Haus, dem am Rande von Florenz. Am Telefon hatte mir Teresina erklärt, was ich tun müsste: Wo ich den Schlüssel von Zia Anna holen, wie ich die vielen Alarmanlagen lahmlegen konnte, wie ich in den Keller käme. Und dann stand ich vor den zwei Kühltürmen, die Dioden leuchteten, minus 23  Grad, alles in Ordnung. Das Gewitter hatte die Kühlanlagen nicht erwischt. Ich war neugierig und öffnete einen Turm, war fassungslos, dann den anderen. Es war nichts anderes als Fleisch drin, Hunderte von Kilos, alles Wild, geschichtet, gestapelt und gestopft, in blauen Tüten.
    Auf dem Nachhauseweg stellte ich mir vor, was passiert wäre, wenn der Stromanbieter tatsächlich das Netz abgestellt hätte und die Tiefkühltruhen nicht mehr von allein angelaufen wären, so wie Teresina es befürchtet hatte. Wenn der Jäger und seine Frau ein paar Tage später in ihr Haus am Rande von Florenz gekommen wären zu den abgeeisten Tiefkühltürmen. Roberto und Teresina ganz allein mit dieser gigantischen Menge von Fleisch, die verkocht, verbraten, verspeist hätte werden müssen. Zwei Türme, übervoll mit Trophäen vom blinden Jäger. Herden an Wild, das da lag, lasch und leblos in blauen Tüten.
     
    Blaue Tüten? Ich Idiot, natürlich!
    Ich stürme mit den beiden Kindern den Supermarkt, hinten zu den Tiefkühltruhen, grabe zwischen Kroketten, buddele zwischen Erbsentüten, nichts. Die Muscheln! Ich baggere Vongole-Pakete zur Seite. Und dort, am Boden der Truhe: eine Plastikkiste. » PRIVATO « steht auf dem Deckel, Violas Schrift. Ich reiße ihn auf.
    Ich hätte mich nicht gewundert, wenn in diesem Moment Fanfaren aus den Supermarktlautsprechern geschmettert worden wären. Knarzig klar, aber egal. Siegestrompeten, Jagdhörner, vielleicht ein Schwerelosigkeitsorchester, Strauss und sein Zarathustra zum Beispiel. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn die Sonne auf einmal durchs Supermarktfenster brennen würde, mich im Visier – ein Kind im Arm, ein Kind am Arm –, mich: einen Mann vor einer Florentiner Supermarkttiefkühltruhe, festgefroren in der Macht des Augenblicks, wie ein Reh im Kegel der Autoscheinwerfer. Ein Mann, der mit einem Schlag plötzlich alles versteht. Die pikierten Blicke von Laura, die vielen blauen Tüten, die so komisch verschwanden. Ein Mann, der versteht, warum seine Frau immer nur eben mal kurz noch runtergegangen ist, »schnell noch Kaffee/Eis/Olivenöl/Miesmuscheln holen«. Der versteht, warum das dann doch immer länger gedauert hat. Ein Mann, der versteht, warum Andrea, der Chef vom Supermarkt immer so komisch grinst, wenn er ihm begegnet. Jetzt ist es raus. Der Supermarkt ist der Ort der Wahrheit: Reh, Hirsch, Wildschwein, alles.
     
    Sie habe Zia Teresina einfach nicht kränken wollen, wird Viola später sagen. Teresina, diese kleine, stolze Frau, die mit allem so gern übertreibt. Mit ihren leuchtenden Augen, der Herzlichkeit, den blauen Tüten.
    »Für meine Nipotina, für die Bambini, für die famiglia – nur die allerbesten Stücke. Und das hier, das ist wichtig fürs Knochenwachstum.«
    Wie hätte sie ihr weh tun können, ihr und dem erfolgsverwöhnten Jäger?,

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