Aus Liebe zum Wahnsinn
wird Viola fragen. Sie habe darauf gezählt, dass Roberto nächste Saison ohnehin nicht mehr wird jagen können. Dann hätte man die Vorräte abschmelzen, einkochen, aufessen können – ganz geheim. Schwierige Situationen habe sie da durchmachen müssen, wird Viola erzählen. Sie hatte gelobt und gedankt und gejauchzt: »Das Wildschwein von letztem Mal, unglaublich zart, zum Verrücktwerden: So was bekommt man ja sonst nicht. Im Laden schon mal überhaupt nicht.« Ob Zio Roberto das auf eine besondere Art schieße? Sie hatte geschwärmt von Schmorbraten und Ragout, von Gulasch, Rehschlegel und Schulterfilet, von saftigem, butterweichem, aromatischem Fleisch – Fleisch, das die ganze Zeit steinhart bei minus 23 Grad unter den Vongole im Supermarkt lag.
Sie habe sich nicht die Blöße geben wollen, wird Viola sagen. Nicht gegenüber mir, dass sie ihrer Verwandtschaft gegenüber nicht nein sagen könne. Und auch nicht gegenüber der Zia, dass ihre Familie, diese ewigen Tedeschi fast nur Gemüse essen. Und dann hatte sie die Idee mit Andrea, dem Supermarktchef. Der habe doch schon öfters ein Täubchen von Zia Anna bekommen und auch Kiwimarmelade und auch …
Das Leben kann so einfach sein, wenn es kompliziert ist.
1 Frau
1 Mann
2 Töchter
1 Geburt
2003
8 Monate
in Edinburgh, Schottland
wo es Heroin im Krankenhaus gibt, Schokoriegel frittiert werden und man mit Bastkörbchen Leberkranke rettet: Man bekommt immer mehr, als man bestellt hat
Eigentlich will ich schnell weiter. Der Spielplatz ist nah, die Kinder quirlig, der Guardian ungelesen. Wenn da nicht diese Dose gewesen wäre. Sie ist dottergelb, eine Tennent’s-Dose, mit einem stockfleckig braunroten »T« darauf, die da vor mir auf der Wiese steht. Ein Billigbier mitten in dem Viertel, in dem die Story rund um die Heroin-Clique aus »Trainspotting« spielt: In Leith, dem ehemaligen Arbeiter- und Hafenviertel von Edinburgh. Dort, wo Sick Boy zu Hause ist, wo die Stadt Falten bekommt.
Hier, wo wir jetzt wohnen.
Es war Zufall, dass wir ausgerechnet dort gelandet waren. Noch ein halbes Jahr zuvor hatte ich nicht mal gewusst, wo die Stadt genau liegt. »Eddingbörg?«, hätte ich wahrscheinlich gefragt – irgendwo in England?
Ein halbes Jahr zuvor also, an einem heißen Junitag in Florenz mit dem üblichen Smog, die Kinder beim Mittagsschlaf, aßen wir im Wohnzimmer Wassermelone und tropften Wassermelonensaft auf den Natursteinboden. Flecken, die übrigens nicht mehr rausgehen, wovon wir aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht den geringsten Schimmer hatten.
Noch drei Monate, dann mussten wir wieder nach München zurück, dann musste Violas Magisterarbeit fertig sein, die letzte Stipendienrate würde dann verbraten sein, dann musste ich mich wieder reinfuchsen in Unilogik, Philosophensprache, wissenschaftliches Arbeiten.
Abstand und Auszeit bergen die große Chance zur Klarheit: Durchatmen, ein wenig zurücktreten, Überblick verschaffen, das Leben entrümpeln. Was will ich wirklich? Was ist mir jetzt wichtig? Abstand legt sich wie Geschenkpapier über den Alltag von früher. Dann kommt die große Überraschung, das Auspacken: Was von alldem, was mir stets als unverzichtbar gegolten hat, vermisse ich eigentlich wirklich? Was gar nicht?
Andererseits birgt Abstand immer auch die Gefahr, mit den Dimensionen durcheinanderzukommen. Große Dinge von Tragweite schrumpfen plötzlich zu mundgerechten Häppchen zusammen. Und genauso andersrum: Nebensächlichkeiten können sich aufplustern wie ein vergessener Hermann-Teig, diesem Kettenbriefkuchen, der sich immer nach zehn Tagen vervierfacht. Man solle lieben Freunden je eine Portion weitergeben, heißt es im Kettenbrief. Das ist ja auch nett: Wir essen alle vom selben Kuchen, so wie das immer wieder gefüllte Salzfässchen, das nie ganz leer wird und so immer noch eine Verbindung zu den Ahnen hält. Oder, die miese Variante: Der Burger-Patty, in dem in einer einzigen Fleischscheibe Material aus 3000 verschiedenen Rindern steckt. We are all connected. Mit Hinz und Kunz. Ob via Bulette von der Fastfoodkette, Opas Salzfässchen oder Hermann aus dem Kettenbrief: Facebook, das durch den Magen geht.
Ich habe die große Gabe, multiperspektivisch zu denken und Antworten zu generieren.
1 . Wie schwierig ist das Ganze überhaupt?
2 . Was ist mir wirklich wichtig?
Ich stand also in unserem Wohnzimmer, tropfte noch mehr Wassermelonensaft auf den Natursteinboden, dachte an die Zukunft: Und ich sah ( 1 .) mit
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