Aus Liebe zum Wahnsinn
bestimmt keiner Lust, den ganzen Mist zu durchwühlen. Der dritte Mann winkte uns raus, mein Herz hüpfte: der Alkohol! Ich schnaufte einmal tief ein und aus, kurbelte (ja, das war damals noch zum Kurbeln) das Fenster runter.
»Good evening Sir, any problems?« Er deutete in Richtung Kofferraum. Meine Ohren glühten, der Atem raste. Kofferraum! Der Mann: »Me? Problem? Nope. You’ve got a problem. A flat tire.« A flat tire. Eine Schraube musste sich nach wenigen Festlandmetern in unser Hinterrad gebohrt haben, das Knattergeräusch kam nicht von den Bohlen. Es war die Felge.
Da standen wir also, wir Meisterschmuggler, direkt vorm britischen Zoll ohne Luft im Reifen und mit zu viel Alkohol im Kofferraum, samt einer Absage des DAAD (»… leider außerstande im Rahmen unserer Förderung …«). Wir hatten noch ein anderes, ganz kleines Stipendium bekommen, den Rest lebten wir auf Pump.
»Haben wir eigentlich einen Ersatzreifen?«
»Klaro.«
Pause.
»Wo ist der eigentlich?«
Pause. Beklommenes Schweigen.
»Ach, komm.«
»Doch.«
»Das kann nicht sein.«
Stille.
»Im Kofferraumboden?«
»Genau da.«
Von Newcastle bis nach Edinburgh fuhren wir nur in den ungeraden Gängen, eins und drei. Der Rückwärtsgang wäre auch noch gegangen, wollten wir aber nicht. Das Gepäck, das wir hastig rausgerissen hatten (ständig darauf bedacht, die Flaschen zu verdecken – erst später werde ich lesen, dass wir bis zu 90 Litern Wein und 10 Litern Spirituosen hätten einführen dürfen), drückte auf einmal bis weit nach vorn, blockierte die Gangschaltung, zumindest Gang zwei und vier. Es war eine laute, hochtourige Fahrt in den Norden von Edinburgh, zu unserer Fabrikwohnung im ersten Stock, über dem indischen Schnellrestaurant, direkt gegenüber der Polizeistation von Edinburgh, Viertel Leith.
Die Wohnung hatten wir im Vorfeld organisiert, einen Monat vor dem Umzug. Wir hatten uns drei Tage gegeben, sind mit Fahrrädern und ohne Kinder rübergeflogen. Stadt testen, Kindergarten finden, Wohnung klarmachen. In München hatte Viola ihren Finger auf diese grüne Fläche auf der Stadtkarte gelegt, ein riesiger grüner Fleck mitten in der Stadt.
»Da will ich wohnen«, hatte sie gesagt. Und wir fuhren mit dem Finger über den grünen Flecken, haben angefangen zu träumen von Garten und Veranda, Picknicks und Vogelgezwitscher.
Und als wir wenig später mitten in der Nacht unsere Pappboxen mit den Rädern aus dem Airportbus gezerrt hatten, wurden wir gleich dreimal überrascht. Und zwar dreimal unangenehm. Erstens war der große, grüne Fleck gar kein Fleck, sondern ein riesiger Berg mitten in der Stadt, ohne Straßen, Häuser, Wohnungen. Holyrood Park. Zweitens lebten die Freunde, die uns für drei Tage aufnehmen wollten, ausgerechnet auf der anderen Seite des Bergs. Und drittens: Ich hatte meinen Sattel zu Hause vergessen. So radelten wir durch die Nacht, im Linksverkehr, die eine müde, der andere hundemüde – und stehend.
Wir hatten unser strenges Raster für die Wohnungssuche auf zwei Grundbedingungen zusammengezurrt. Erstens: Mindestens drei Zimmer, eins für uns, eins für die Kinder und eins, in dem meine Magisterarbeit drin wohnen sollte. Und zweitens: Unbedingt Erdgeschoss, dann könnten wir schlafende Kinder draußen parken und würden nicht so oft übers Einkaufen fluchen. Diese beiden Dinge waren die Musthaves – alles andere sollte Verhandlungssache sein, da waren wir total offen.
Nach drei Tagen unterschrieben wir: Zwei Zimmer, erster Stock. Immer schön kompromissbereit bleiben, auch mit den eigenen Musthaves. Schreiben konnte ich doch auch in der Bibliothek oder im Schlafzimmer. Und: Die Stockwerke waren bei dieser Hafenarchitektur noch mal höher, ein paar Stufen mehr, schon klar. Dafür war es ja nur ein Stockwerk.
Entscheiden bedeutet immer auch springen. Mal ist der Sprung kleiner, mal größer, und mal geht er daneben. Aber er ist immer ein kleines Wagnis, ein Ausbruch aus dem, was sich vorhersehen lässt, aus der eigenen Komfortzone.
Unsere Entscheidung fiel auf der Straße. Ein kurzes Gespräch, zwei, drei Minuten mit einer Passantin, die einen Kinderwagen vor sich her schob und aus dem Stegreif eine Lobeshymne auf ihr Stadtviertel sang. Wir hörten zu, staunten, Applaus brandete in uns auf. Ja. Super. Gemacht. Gut, dann eben nicht Erdgeschoss, nicht drei Zimmer, aber dafür hier, mit dieser Frau, die so freundlich war und der es hier so gut gefiel. Und die wir leider nie
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