Aus Liebe zum Wahnsinn
girrrrl.«
Das Baby knarzte. Ein kaputter Dudelsack, dachte ich. Die Hebamme legte Viola das Baby auf den Bauch. Es aalte sich, suchte die Brust. Ein kleiner Astronaut, fremd und aus Versehen irgendwo gelandet. Mir stieg Kreißsaaltaumel in den Kopf, in den Bauch, in die Beine. Auf einmal war nichts mehr wichtig, außer dieses winzige, neue Wesen, das dabei doch noch so fremd war.
An die Fremdheit musste ich mich erst gewöhnen. Das war etwas, was ich nicht erwartet hätte.
Wird man Vater oder Mutter, hat man ja einige Zeit, sich darauf vorzubereiten. Man stellt sich ein bisschen die Geburt vor, man überlegt, wie man sich als Eltern verhalten wird: Was will man mit dem Kind alles tun, was ihm zeigen, was ist einem selbst wichtig? Man sucht einen Namen aus, den man mag, von dem man denkt, er könnte zu dem passen, was da gegen die Bauchdecke tritt. Man skizziert das Leben mit dem neuen Menschen nach der Geburt. Und dann ist das Baby da: zauberhaft, rührend, süß, alles – wie eine Tasse warmer Kamillentee, der im Brustkorb ausgeleert wird, innen drin. Und trotzdem fremd, total fremd.
Beim ersten Kind hat uns das umgehauen. Dass man sich sogar an sein eigenes Fleisch und Blut erst mal gewöhnen muss, damit hatten wir einfach nicht gerechnet. Noch dazu waren wir davon überzeugt gewesen, dass es ein Junge werden würde – nach einigen Diskussionen (»Nein, Viola,
Dante
geht nicht.«) sollte er Luigi heißen, weil wir Gigi als Spitznamen super fanden. Und dann lag da plötzlich eine Tochter zwischen uns in diesem Münchner Kreißsaalbett. Wir hatten Nähe erwartet, ein sofortiges Familiengefühl. Stattdessen lag da dieses unvertraute Wesen, dem wir mit Kindchenschema-Rührung begegneten: »Schau, wie nett er sein Fäustchen ballt.«
Pause.
Ȁh,
sie
.«
Die schottische Hebamme übernahm wieder das Baby. Inzwischen war das ganz fiese Blauviolett in ein helleres Violett übergegangen. Die Hebamme zählte Zehen und Finger, maß Köpfchen und Körper. 20 Inches, 6 Lbs und 5 Oz. Sie machte ein ganz verzücktes Gesicht, fiepste: »Isn’t she cute? Isn’t she the cutest wee girl in the world?«
Ich blickte in das Gesicht der Hebamme, dann wieder auf das Baby. Und mir fiel nichts ein. Ich sagte, es sei eben ein Baby. Süß, sicher. Ein Baby halt. Eben ja. Anyhow. So etwa und schabte währenddessen mit dem Daumen über die abwaschbare Wand. Und auf einmal wandelte sich das Gesicht der Hebamme, als ob ich einen geheimen Schalter umgelegt hätte. Ich hätte da schon ganz recht, sagte sie plötzlich mit normaler Stimme. Sie beugte sich vor, als ob sie fürchtete, dass jemand anderes hätte mithören können: »At the end they do all look like Winston Churchill in his last days.«
Viola hatte Hunger. Und sie wollte was Salziges.
»Äh, Salami?«
»Hast du Brot?«
»Besorge ich.«
Und als ich in die Teeküche von Flur 119 kam, voll im Kreißsaalrausch, erschien es mir nur logisch, dort einen Sack Toastbrot und diese Maschine anzutreffen, diesen Sechsfach-Schlitz- XXL -Toaster, der zwölf Scheiben auf einmal rösten konnte.
Als wir mit unserem Winston drei Stunden später auf die Straße traten und bei unserem Spezialparkplatz ankamen, klemmte ein Knöllchen hinterm Scheibenwischer. 45 Pfund sollten wir zahlen, innerhalb der nächsten zehn Tage nur die Hälfte. Auch den Strafzettel haben wir einfach in Camillas Tagebuch geklebt. Wir hatten ein deutsches Nummernschild am Wagen, ein Vollstreckungsabkommen gab es damals noch nicht. Soll Camilla ihn doch zahlen, wenn sie groß ist. Wenn sie will. Irgendwann mal.
Ein gutes Jahr später kommt eine E-Mail von Dave, unserem Nachbarn: Er habe sich eben unten was geholt, vom indischen Takeaway, das erste Mal: »And not only did i get the food i ordered – i got a can of tennent’s that i didn’t.« Eine dottergelbe Dose, ein Pint groß, unbestellt, unverletzt, original versiegelt, kostenlos zum Menü dazu. Direkt vor dem kleinen Rasenstück mit dem Mäuerchen, wo man so schön in der Sonne sitzen kann.
1 Frau
1 Mann
4 Kinder
2006
12 Monate
in Tel Aviv, Israel
wo mir Yorkshire-Terrier-Momente, Uli-Hoeneß-Bub und Ajami-Araber kräftig einheizen: Manchmal bekommt man nur mehr, wenn man gegen Regeln verstößt
Es ist keine feine Mischung, der Beton grießig, fies für den Hintern auf Dauer. Trotzdem hocken wir dort schon eine ganze Weile. Sechs Stockwerke über dem Meeresspiegel, auf dem Dach einer Parkgarage, unter uns glitzert
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