Aus Liebe zum Wahnsinn
und wummert Tel Aviv. Es ist Nacht, die Luft ausgelaugt, vom Tag verlebt. Rechts Neve Tzedek, das hochsanierte Künstlerviertel: schick, teuer, Anzugmenschen. Links Florentin: runtergewohnte Bauhaus-Bauten, illegale Clubs, wandernde Saftbars. Ganz oben kauern wir auf unserem Ausguck wie zwei Bademeister in Rente, sehen dem Leben beim Wabern zu. Mal seufzt einer: »Ist schon sehr schön hier« – so was eben. Dann Schweigen, dann sagt der andere: »Wir haben’s aber auch gut.« Dann ein paar Muskeln strecken, ein wenig die Haut auf dem Beton wälzen, die salzige Luft mit einem Schluck palästinensischem Bier hinunterspülen.
Früher hat meine Frau immer gesagt: »Sobald ich 30 bin, will ich nicht mehr schwanger werden.« Auf keinen Fall. Schluss. Aus. Finito. Das fand ich von Anfang an super. Klare Ansage. Ein Plan. Eine tolle Frau. Und wenn Leute nach einem Lebenskonzept fragten, hatte ich eine aparte Antwort parat. Wobei ich eigentlich nie so recht verstanden habe, was sich die Leute herausnehmen, da rumzubohren.
Wir sind jung. Und ja, wir haben Kinder. Und ja, es sind mehrere. Deswegen sind wir aber noch lange nicht gaga.
Oder habe ich irgendjemanden eingeladen, mit viertelgaren Überlegungen aufzuwarten? Woher kommt die Tollkühnheit, lose Bekannte zu löchern, ob sie noch ein Kind wollen? Sind wir narrenfrei? Wir werden es schon sagen, wenn wir wollen. Wenn mich einer fragte, bekam er jedenfalls die Dreißiger-Regel serviert. Das hatte bisher immer gereicht. Danach war Stille, es wurde vielleicht ein wenig gegrummelt, ein Getränk bestellt, aufs Klo gegangen, so was.
Bis zu diesem Abend auf dem Parkdach.
Viola behauptet bis heute, sie habe es ja erst aus der Post erfahren. Ein sonderbar steifes, übergewichtiges Kuvert wäre da im Briefkasten gelegen.
»Und ein Papier!«, sagte Viola am Telefon. »Mit ganz viel Struktur. Wie die Hände einer alten Frau.« Sie machte eine kurze Pause, dann sagte sie: »Ich mache das jetzt auf« und drückte mich, bevor ich noch irgendwas erklären konnte, aus der Leitung.
Ich bestreite es ja bis heute, bin mir sicher, dass ich ihr von der Stipendiumsbewerbung erzählt hatte. Vielleicht nur beiläufig, okay, während ich mit Sohn und einem Gläschen »Zartes Gartengemüse« kämpfte, während irgendein ICE -Bobbycar unser neues Klavier rammte, während »Die Rübe« lief und nebenan italienische Kinderlieder »Zecchino d’oro«. Vielleicht brüllte ich es in eine gedachte Lücke, bestand nicht auf einer Reaktion. Kann sein.
Warum sollte es Absprachen und Informationen auch anders ergehen als all den Handschuhen, Brotzeitboxen, Hausschlüsseln, die sich regelmäßig aus unserem Besitzstand verabschieden, die abtauchen, als ob es sie nie gegeben hätte? Eine Art natürlicher Schwund: Wo viele Menschen mit vielen Dingen hantieren, geht eben auch viel verloren.
Aber erwähnt hatte ich es. Auf jeden Fall.
Und trotzdem: Geglaubt habe ich nie wirklich daran. Eine große deutsche konservative Stiftung soll eine junge, ernährerlose Familie in die Welt hinaus schicken? Ausgerechnet nach Israel? Mit vier kleinen Kindern? Das jüngste ein halbes Jahr alt, das älteste gerade mal fünf?
Es klingelte erneut.
»Viola Mob«, stand auf meinem Display. Und ja, da hatte ich ein wenig Angst.
Würde sie schimpfen? Nachtarocken? Sie sollte sich beruhigen, hätte ich sagen können, es war doch ohnehin eine Absage, war doch nichts passiert.
Wie ich überhaupt auf die Idee habe kommen können? Israel? Dieses hochgerüstete Land, Verrückte von allen Seiten, alle paar Monate Kriege und Konflikte.
»Hast ja recht«, hätte ich beschwichtigt. »War ja nur ein Versuch.« Ein letzter Strohhalm, Plan und Struktur ins nächste Jahr zu bekommen. Noch ein paar Monate sollte meine Redakteursausbildung an der Deutschen Journalistenschule dauern. Und dann? Viola mit Romanistikabschluss und ein wenig Übersetzererfahrung, ich mit diesem Magister in Philosophie und rundherum die Nachwehen der letzten und die Vorboten der nächsten Medienkrise. Weiterwursteln, irgendwie?
Mein Telefon klingelte noch immer.
Und was, wenn die Stiftung Gefallen am Wahnsinn gefunden hatte? Wenn wir tatsächlich in ein paar Monaten alle zusammen im Terminal 2 , Halle F, sicherheitsgefährdete Flüge, stünden? Würde Viola da überhaupt mitmachen? Wird sie nicht eher die Arme um die Kinder legen, den Mund schmal machen, mit den Augen funkeln und zischen: »Ohne uns«?
»Ja, hallo«, antwortete ich. Kleinlaut, auf
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