Aus Liebe zum Wahnsinn
traurig war, dass ich nicht mitkomme. Und dann kam Jim und wollte alles ablutschen. Ich weiß auch nicht, warum.«
»Okay«, sagt die Frau über Eck. »Und dieser Jim und diese Gianna und die anderen Tattootypen sind …«
»… meine Kinder.«
Die Frau über Eck schaut mir gerade ins Gesicht, ihre Augen hat sie zu schmalen Schlitzen zusammengezogen. Misstrauisch, fast ein bisschen feindselig.
»Okay.« Diesmal murmelt sie es. Eher aus Versehen, eher, um Zeit zu gewinnen. »Und jetzt die Wahrheit.«
»Insgesamt sind es sechs.«
So geht es ping-pong, eine meiner Mitbewohnerinnen wird als Leumund berufen, ich muss Fotos zeigen, bis hinreichend belegt scheint: Ja, ich habe nicht geschwindelt, wir haben tatsächlich sechs Kinder.
Und jetzt: Was gibt’s als Hauptgericht?
Jeder Mensch hat ein paar Themen, zu denen er häufiger befragt wird. Das ist oft der Beruf, eine Bekanntschaft mit einem Promi, ein ausgefallenes Hobby, ein aufregender Fleck auf der Iris, so was eben. Es sind Experteninterviews, die dann gegeben werden. Der eine fragt, der andere weiß. Für den, der weiß, ist die Sache oft wenig unterhaltsam. Sicher, er kann versuchen, einen neuen, noch undiskutierten Aspekt von Job, Hobby, Promi, Iris nach vorne zu stellen und so ein wenig Spannung für sich selbst zurückzuerobern. Aber das Feld ist begrenzt. Wer eine Frage einhundertzwölfmal gehört und sie einhundertzwölfmal in alle möglichen Richtungen beantwortet hat, der wird beim einhundertdreizehntenmal nicht mehr jauchzend aufspringen und nach neuen frischen Sätzen fahnden.
Im Beispiel der Frau über Eck lautet das Thema: »Sechs Kinder? Wirklich? Glaube ich nicht. Verstehe ich nicht. Kann ich mir nicht vorstellen.« Es geht ihr darum, ein wenig Nachvollziehbarkeit aus einer fremden Welt einzufordern. Darum, in irgendeinem Detail zu hören: Wir wollten das eigentlich auch nicht wirklich so. War nicht so gemeint. Schon okay.
»Sechs Kinder. Jetzt echt?«
Ich nicke. Nicht aufmunternd. Eher erschöpft. Erschöpft von dem, was da kommen wird. Es ist eine hellseherische, prophylaktische Zerschlagenheit.
»Sind da Zwillinge dabei?«
»Nein. Alles Einzelkinder in einer großen Familie.«
Pause.
Ich habe versuchshalber Unterhaltungen an diesem Punkt schon mal umgebogen und einfach Mehrlingsgeburten daher behauptet. Nach meiner privaten Untersuchung kippt die Wahrnehmung bei dem statistischen Wert von 2 , 6 Kindern pro Geburt. Das heißt im Klartext: Behaupte ich Zwillinge, wirkt die Nachricht dieser Mehrlingsgeburt noch überdurchschnittlich beruhigend auf das Gesamtgespräch. (»Ach so, die wollten eigentlich nur
ein
Kind und haben dann gleich
zwei
kassiert. Kann ja jedem mal passieren. Jetzt verstehe ich’s.«) Gehe ich aber rauf und behaupte Drillinge oder gar mehr, übersteigt statistisch die Aufregung um Mehrlingsgeburten (»Was, ihr wolltet ein viertes Kind und habt dann Drillinge bekommen? Das ist ja Wahnsinn!«) den gesprächsberuhigenden Effekt, dass wir in eine Großfamilie hineingeschlittert sind, die wir so eigentlich nie geplant hatten.
»Alle mit der gleichen Frau?«
»Ja.«
Pause.
An dieser Stelle könnte ich natürlich auch eine gewitztere Antwort geben.
»Ja, und weißt du, was wirklich irre ist: Die Frau behauptet sogar, alle sechs Kinder seien von ein und demselben Typen. Krass, oder?« Ich könnte ein wenig den Kopf schütteln. »Manchmal glaube ich das ja selbst nicht.« Irgendwas in diese Richtung. Habe ich schon ein paar Mal gemacht. Bringt auch nichts Neues.
Nach einer längeren Pause kommt die Frau über Eck mit einem nur scheinbar neuen Thema.
»Bist du eigentlich religiös?«
»Schwierige, große Frage. Aber, falls das der Hintergrund der Frage ist: Nein, ich bin weder der Meinung, dass Kondome das HIV -Problem an der grundsätzlich falschen Stelle anpacken, noch habe ich ein generelles Problem mit Verhütung, zumindest kein ideologisches.«
In Tel Aviv war ich mal im Krankenhaus mit Camilla. Sie hatte sich den Unterarm ausgekugelt, was wir aufmerksamkeitsdefizitäre ADS -Eltern erst nach Stunden bemerkt hatten. Und so saßen wir im Wartezimmer, sie mit ausgekugeltem Unterarm, ich mit schlechtem Gewissen. Ich kam mit der Mutter neben mir ins Gespräch, einer Orthodoxen, etwa genauso alt wie ich, mit blickdichter Strumpfhose und Topfschnitt-Perücke. Wir erzählten uns ein bisschen aus unserem Leben. Drei Kinder hatte sie, eine Menge Haushalt und einen Mann, der ständig betete. In einer
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