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Aus Liebe zum Wahnsinn

Aus Liebe zum Wahnsinn

Titel: Aus Liebe zum Wahnsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georg Cadeggianini
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    Auch die Telefonate mit unseren Eltern hatten Viola nicht verschreckt, die fast täglich darum baten, doch jetzt endlich nach Hause zu fliegen. Vier kleine Kinder und das Land im Norden und Süden im Krieg. Was das denn bitte alles soll?
    Sie hatte immer geantwortet, jaja, das stimmte ja auch alles, wäre aber weit weg, hier in der Blase Tel Aviv wäre alles ruhig, anders, normal. So etwa hatte sie das immer gesagt. Und ich hatte ihr das geglaubt. Und sie selbst sich auch. Bis zu diesem Telefonat. Das hatte die Perspektive verschoben. Plötzlich war sie nicht mehr eine Frau, die verdammt nah an Meer und Sonne lebte, nicht mehr eine Frau, die auf den Abend wartete, die Pläne hatte, ausgehen wollte, sondern plötzlich war sie allein. Mit vier kleinen Kindern. Im Vielleichtkriegsgebiet.

1  Mann
keine Frau
keine 6  Kinder
alle 4 Wochen
12  Tage am Stück
in einer 4 er- WG in Altona, Hamburg
    wo ich zwischen Sex-Persilschein, Lachsweibchen und schlechtem Gewissen rangiere: Manchmal ist mehr tatsächlich nichts anderes als mehr
    Irgendjemand hatte den Tisch abgeholt. Den großen, dunkel gebeizten, der weder Pflege verlangte noch bekam; an dem locker zwölf Leute Platz hatten, auf dem letzthin sogar ein Gast übernachtet hatte. Der letzte Grappa war zu viel gewesen, und er hatte einfach seinen Kopf sinken lassen. Und war anschließend nicht mehr vom Tisch wegzubewegen gewesen. Da lag er dann, Stirn auf der Platte, kein Spuckfaden, geringfügige Schlafgeräusche: in Pole-Position fürs Frühstück. Und wir gingen auf unsere Zimmer.
    Wer kauft Mottenfallen? Wer hört sich nach jemandem um, der uns das Bad billig neu, sagen wir, zumindest annehmbar fliest? Bei Silke sind auffällig viele Wespen im Zimmer. Ein Nest? Wer kennt sich da aus? Der Gasherd- anzünder ist immer weg, und das nervt. Wer regelt das? Wollen wir Sonnenliegen für den Hof? Klar, können die Nachbarn sich bei uns ins WLAN einhacken. Verlangen wir dafür Geld? Wie viel? Wer spricht mit ihnen?
    Wir hatten wirklich alles geregelt. Alle Aufgaben besprochen und verteilt, an alles gedacht. Nur nicht daran, einen Tischbeauftragten zu bestimmen. Einen, der im Fall der Fälle festhält – am Tisch. Also, zum Beispiel für den Fall, dass plötzlich eine wildfremde Frau auftaucht, sich als frühere Mitbewohnerin ausgibt, sich in der Mitte unserer geräumigen Wohnküche aufbaut (die zwei tatkräftigen Freunde halten sich zu diesem Zeitpunkt noch dezent im Hintergrund), mit einem ihrer wahnsinnig spitzen Zeigefinger auf unseren Küchentisch zielt und dann sagt: »Das ist meiner.« Woraufhin die zwei tatkräftigen Freunde in die Mitte unserer Wohnküche vordringen und sich in einer vor allem in ihrer Selbstverständlichkeit unverschämten Art unseres Herzstücks bemächtigen. Einen Tischfesthalter, daran hatten wir einfach nicht gedacht.
    Mist.
    Tschüs, Tisch!
    Jetzt liegt da eine alte Tür auf zwei Tapezierböcken. Das geht auch. Vorerst mal. Da sitze ich, trinke das zweite Glas überraschend durchschnittlichen Rotwein. Geht auch mal. Aus einem Senfglas. Das geht auch. Ein sechsfacher Familienvater aus München arbeitet den halben Monat in Hamburg und wohnt dort in einer WG . Das geht auch. Manchmal. Zur Not.
    Ich bin der erste an den Böcken heute Abend. Wir kochen gemeinsam, jeder einen Gang. Wir haben eingeladen, jeder drei Freunde. Vier mal drei plus vier – Achtung: Punkt vor Strich – macht 16 . 16  Menschen, vier Gänge, um halbneun. An unserem Zwölfender auf Böcken? Wird schon.
    Ich kann mich ohnehin zurücklegen. Ich habe mich um die Nachspeise gekümmert, und das schon gestern Abend – und versaut: unten Teig, oben Schnee, in der Mitte »Gurken«, wie Gionatan Rhabarberstücke voller Abscheu nennt. Eigentlich ein erprobtes Ding, mein Lieblingskuchen.
    Aber auf einmal lagen da diese Muffin-Förmchen – kleine gefalzte Pokale des Individualismus.
    »Gestatten: Zeitgeist mein Name.«
    »Oh, hallo. Du hier? Bei uns in der WG ? Das gibt’s ja nicht. Angenehm: Georg. Was steht an?«
    »Kontextbruch. Jetzt ganz groß. Nicht verpassen. Alles, was thematisch gebunden ist, rausreißen, neu machen. Hier, ich habe dir diese Muffin-Förmchen hingestellt. Eine Steilvorlage.«
    In einer Mischung aus Weihnachtsbäckerei und Gestalttherapie drapierte ich 16  Törtchen in den Ofen und verließ die Küche.
    Jemand, der sogar den Zeitgeist reden hört, von dem darf man wirklich erwarten, dass er es mitbekommt, wenn seine Törtchen um Hilfe

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