Aus Liebe zum Wahnsinn
schreien. Habe ich ja eigentlich auch. Dieses Zischen. Ich dachte, dass der Hausmeister im Hof die Platten kärcherte. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass unser kleiner Gasherd zu Hochofenform auflaufen und 16 Indiviualistentörtchen zu einer Art Rhabarberfußmatte zusammenschmelzen würde, zu etwas, was man also eher im Fußraum eines Pkw vermuten würde als auf dem Dessertteller. Es waren ohnehin nur die jämmerlichen Schlusstakte eines Sonntags gewesen, der sich gegen mich aufgelehnt hatte.
Mittags hatte ich die Familie noch zum Bahnhof gebracht, Frau und Kinder, Rückreise antreten, Ende eines Kurztrips. Vier Tage zuvor waren wir gemeinsam von München hochgefahren: 6 Stunden, 8 Menschen, 3 , 3 Quadratmeter. Noch eine Geschichte vorlesen?
»Ja, Räuber Plotzenrotz.« Ab Kassel war die Abteiltür nur noch selten zu. Noch mal aufs Klo? Gionatan fürchtete sich vor der Unterdruckspülung.
»Die schreckliche Toilette«, flüsterte er und wollte trotzdem den Knopf selber drücken. In seiner Mimik jener grandiose Mix aus Grusel und Neugier: Schweppes-Gesicht des Lebens. Noch mal Entenkarawane zum Speisewagen: Aufgehängte Gläser anschauen, Süßigkeitenkörbchen scannen.
»Und was machen die mit den Sachen, wenn die bis Hamburg keiner kauft? Schmeißen die die dann weg?«
Menschen, die im Moment nichts weiter wollen vom Leben, als in Ruhe Currywurst aus der Mikrowelle essen, in unangenehme Gespräche verwickeln.
»Was stinkt hier so?«
»Und warum isst du das?«
Jetzt also wieder zurück, ohne mich: 6 Stunden, 7 Menschen, 3 , 3 Quadratmeter. 0 , 06 Quadratmeter mehr für jeden als bei der Hinfahrt, dafür halber Betreuungsschlüssel. Am Bahnhof der Abschied: Winken, Zugpfeifen, ein wenig Hinterherrennen, Auslaufen. Dann Schalheit.
Im Film würde es jetzt vielleicht regnen. Auf jeden Fall würde es einen Cut geben, vielleicht noch einmal eine Nahaufnahme vom Gesicht des desperaten Mannes und dann schnell weg. Raus aus dieser Malaise. Ich aber bleibe hocken im verheulten Bahnhof, in der leervollen Stadt, in meinem anderen Leben. Ich trotte nach Hause, lustlos, ohne zu schlendern.
Diese Wohnung hier, die vorher einfach nur meine Ersatzwohnung gewesen ist, Unterschlupf, immer ein wenig leer, spartanisch, unwirklich, zweite Geige, ist jetzt auf einmal voll. Angefüllt mit dem, was war. Mit Leerstellen, mit Menschen, die fehlen, mit Stimmen, die schweigen. Der Flur, durch den keine Kinderfersen mehr trampeln. Das Brett, das vorher einfach nur ein übriggebliebenes Regalbrett war, ist jetzt Teil der Sitzbank, auf der drei Kinderhintern nebeneinandergesessen hatten, immer dann, wenn es etwas zu essen gegeben hatte, und die sich nie einig darüber werden konnten, wer in der Mitte sitzen durfte.
Oder die Tüte Blattkoriandersamen dort auf der Fensterbank, die zuvor immer nur eine von etlichen Samentüten gewesen war, die meine Mitbewohnerin sich vorgenommen hatte mal zu säen, irgendwann mal, irgendwann. Diese Tüte war jetzt Jims Tüte, die er mit Begeisterung, viel Spucke und ein paar Zähnen aufgezuzelt hatte – in der Meinung, es sei vielleicht Ahoi-Brause oder sonst was.
Und meine Tür? Von der beim Versteckspielen der Türgriff abgefallen war, als Lorenzo sie zu fest zugeworfen hatte – und deshalb Camilla im Zimmer einschloss.
»Ruhig, ganz ruhig«, beschwichtigte ich aufgeregt durchs Schlüsselloch. »Das haben wir gleich.« Und genau in dem Moment, als ich mit Löffel, Zange, ein wenig Feingefühl und viel Fluchen das Ding tatsächlich wieder aufgebracht hatte, tauchte Camilla auf. Nicht im Zimmer, sondern hinter mir.
»Ich hab gewonnen!«
Jetzt stehen all die Dinge hier rum: Sofa, Türgriff, Koriandersamen, Regalbrett – wie Requisiten eines abgesetzten Theaterstücks. Wegen technischer Probleme bis auf weiteres nicht im Programm.
Sogar die Dunkelheit in meinem Zimmer hat sich verändert: Da waren die Kinderlungen, die ich habe schnaufen hören, die von Erschöpfung, Träumen und einem Tag in der Bürostadt erzählten.
Weg.
Und später in der Nacht, dieses halbseidene Schwarz, noch deutlich vor Morgengrauen, das früher einfach nur Grund genug war, sich wieder umzudrehen,
»Viertel nach fünf? Ihr spinnt!«
Das ist jetzt die Zeit, zu der Viola und ich in einem Hamburger Sandkastenhäuschen kauerten, kalt war es, finster war es und keinen Kaffee gab es. Gar keinen. Den Kindern war das freilich wurscht. Sie taten einfach so, als ob das alles ganz normal wäre, und
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