Aus Liebe zum Wahnsinn
spielten. Ganz normal und keineswegs kompliziert.
Was hätten wir auch tun sollen? Ein Kind war aufgewacht, hatte lauthals die anderen in unserem Notunterkunft-Matratzenlager geweckt. Keine Chance, sie wieder zum Schlafen zu bewegen. Einfach alle wach, und das in der hellhörigen WG -Wohnung, und das um Viertel nach fünf: Ich packte noch schnell eine Stange Butterkekse unter den Arm – und ab zum Spielplatz, dem kleinsten gemeinsamen Nenner.
Noch einen Wein ins Senfglas. Wann kommen eigentlich die anderen Gänge? Die Mitbewohner? Mein Daumen fährt über die Noppen des Glases.
Senfgläser sind wie Ikea-Lampen. Die aktuelle Kollektion ist immer unerträglich. Wenn man aus Senfgläsern trinkt, schmeckt es komisch. Man denkt zu sehr an die Wiener Würstchen, die die Kinder gerade noch in genau ebenjenes Glas getunkt haben.
Wenn man unter einer Ikea-Lampe wohnt, legt sich das aromalose Gefühl von Massenfertigung auf das eigene Leben. Haben Markus und Isabel nicht genau die gleiche Lampe in ihrem Schlafzimmer hängen? Ausgerechnet Markus und Isabel. Die mit dem unglaublich hässlichen Segmüller-Wandschrank im Schlafzimmer und dem Taschentuchspender direkt neben dem Bett, der mich mit seinem übergriffig privaten Einblick gruselt.
Wenn die Dinge in die Jahre gekommen sind, werden sie – verklärt von der verstrichenen Zeit – zwar ganz automatisch cooler (so wie dieses gerade zylindrische Glas, das unten benoppt und dicker ist), sind aber genauso oft einfach Pressspan-Scherben-Schrott.
Obwohl: Da gibt es unseren Münchner Ess- und Basteltisch, Jahrgang 1975 , vererbt von den Schwiegereltern, »Möbel aus der Deutschen Demokratischen Republik« ist auf der Unterseite aufgestempelt – und zwar im Auftrag von Ikea. Oben haben wir ihn mit sieben Schichten Bootslack veredelt, von dem der Verkäufer damals meinte, »nicht einmal Bleigeschosse mit mehr als 500 km/h können da ran. Der ist bombensicher.«
Ich würde mit dem Verkäufer gern noch mal ein Wörtchen sprechen. Ich würde die Kinder mitnehmen, sie einzeln hochhalten.
»Wie schnell?«, würde ich den Verkäufer jedes Mal fragen. »Welche Waffenklasse?« Aber wurscht, der Tisch steht noch. Weit weg.
Die Gäste sind da.
»Was hast du denn da auf der Hand?«, will die Frau über Eck wissen, deren Namen ich mir nicht merken kann. Wir haben gerade die Fenchelschafsfrischkäsesparten durch, mit viel Zitrone und grobgestoßenem Pfeffer, als Starter. Es ist laut, wir sind tatsächlich zu sechzehnt. Als es immer noch läutet – nachdem bereits Bürostühle in die Küche gerollt wurden – und zwei weitere Gäste ohne Sitzplatz dastehen, denke ich noch mal kurz an das Regalbrett und die Bankkonstruktion: Würde die Regalbank halten? Welche drei Personen im Raum am ehesten? So ein Sonderprojekt, so eine geheime Fragestellung, die man in einer Gesellschaft hat, kapselt einen ab.
Irgendjemand holt dann einfach zwei Bierbänke aus dem Hof. Auch gut.
»Ja, das da auf der Hand, also …«, ich zögere, schaue auf meinen Handrücken, als ob ich es erst selbst entziffern müsse. Mist. Irgendwie habe ich vergessen, das richtig abzuwaschen. »Willst Du die Wahrheit wissen?«
Sie beugt den Kopf ein wenig zur Seite, blinzelt, lässt die Augen einen Moment länger geschlossen als nötig: eine Mischung aus ein bisschen gelangweilt und wahnsinnig sexy.
»Mich interessiert alles«, sagt sie. »Aber vor allem die Wahrheit.«
Ich atme übertrieben aus. Und als eigentlich schon die ganze Luft raus ist, hänge ich noch meine Antwort dran, tonlos, einsilbig. »Das sind drei verschiedene Kaugummitattoos übereinander.« Sie nickt langsam, mich taxierend.
»Okay.« Pause. Dann: »Und wie zur Hölle kommen die da hin?«
Ich schlucke. Irgendwas stimmt mit dem Radicchio-Orangen-Salat nicht, zu viel Billigbalsamico wahrscheinlich. Und was soll das überhaupt mit den Orangen? Warum muss heutzutage überall Orange rein? Hallo? Das ist eine Frucht! Die kann man so essen, einen Obstsalat daraus machen oder zu Saft pressen. Sonst? Und gut sind Orangen eigentlich eh nur zwischen Nikolaus und Neujahr. Vielleicht ein wenig länger noch. Aber sicher azyk- lisch zur Radicchio-Saison. Und das aus gutem Grund.
»Das erste hat Gianna draufgemacht, damit ich an sie denke, wenn sie wieder weg ist. Das zweite hat Lorenzo drübergepresst, damit ich
nicht
an Gianna denke, wenn sie beide wieder weg sind, sondern an ihn. Und das dritte habe ich für Gionatan draufgemacht, weil er
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