Auschwitz
Massenvernichtung gewesen war, sondern auch in seiner Funktion als »Verwalter« gestohlener Gelder zur »Endlösung« beigetragen hatte, von den westdeutschen Behörden nicht für »schuldig« gehalten wurde. Von den etwa 6500 SS-Leuten, die zwischen 1940 und 1945 in Auschwitz gearbeitet und den Krieg höchstwahrscheinlich überlebt hatten, wurden tatsächlich nur rund 750 verurteilt. 29 Das spektakulärste Gerichtsverfahren war der Auschwitz-Prozeß in Frankfurt zwischen Dezember 1963 und August 1965, in dem 17 der 22 Angeklagten verurteilt wurden, davon nur sechs zu lebenslänglicher Haft, was die Höchststrafe war.
Allerdings waren es nicht nur die Deutschen, die es versäumten, eine größere Zahl von ehemaligen SS-Angehörigen vor Gericht zu stellen. Im Grunde war es die gesamte internationale Staatengemeinschaft, die hier versagte (mit der möglichen Ausnahme der Polen, die immerhin 673 der insgesamt 789 SS-Männer aus Auschwitz 30 , die strafrechtlich verfolgt wurden, unter Anklage stellten). Dieses kollektive Versagen rührte daher, daß es keine klare Vereinbarung darüber gab, welche Handlungen als »Verbrechen« einzuordnen waren. Darüber hinaus spielten auch die politischen Spannungen, die der kalte Krieg mit sich brachte, eine Rolle. Nicht zuletzt mangelte es jedoch eindeutig am Willen aller Beteiligten. Obwohl in den Nürnberger Prozessen die SS in ihrer Gesamtheit als »verbrecherische« Organisation eingestuft wurde, unternahm niemand den Versuch, allein die Tätigkeit als SS-Angehöriger in Auschwitz zum »Kriegsverbrechen« zu erklären – obwohl dies die öffentliche Meinung sicher begrüßt hätte. Die Verurteilung und Bestrafung eines jeden in Auschwitz eingesetzten SS-Mannes, wie geringfügig auch immer, hätte eine deutliche Signalwirkung für die Zukunft gehabt. Doch nichts dergleichen geschah. Etwa 85 Prozent der SS-Angehörigen, die in Auschwitz gearbeitet und den Krieg überlebt hatten, kamen ungeschoren davon. Als Himmler die Entwicklung der Gaskammern vorantrieb, um der SS die psychischen »Belastungen« kaltblütiger Erschießungen zu ersparen, hatte er unmöglich ahnen können, welchen zusätzlichen Gefallen er den Nationalsozialisten damit tat; die neue Tötungsmethode sollte es einem Großteil der SS-Angehörigen von Auschwitz ermöglichen, nach dem Krieg ihrer Bestrafung zu entgehen, indem sie sich darauf beriefen, am Vernichtungsprozeß nicht direkt beteiligt gewesen zu sein.
Oskar Gröning scheint es nicht im geringsten zu belasten, daß viele der ehemaligen Lagerhäftlinge auch nach ihrer Befreiung schwere seelische und materielle Not litten, während er ein angenehmes Leben führte (und noch führt). »So ist es nun einmal im Leben«, konstatiert er lakonisch. »Jeder hat die Freiheit, aus seiner Situation das Beste zu machen. Ich habe getan, was jeder normale Mensch tun würde, nämlich für mich und meine Familie das Beste herauszuholen. Mir ist das gelungen, anderen eben nicht. Was früher einmal war, tut nichts zur Sache.«
Angesichts dieser sorglosen Haltung ist es um so erstaunlicher, daß Oskar Gröning gegen Ende seines Lebens beschloß, ganz offen über seine Zeit in Auschwitz zu sprechen. Die Umstände, die zu diesem Sinneswandel führten, sind allerdings kurios: Nach dem Krieg begann Gröning Briefmarken zu sammeln und trat dem örtlichen Philatelistenverein bei. Mehr als 40 Jahre später kam er auf einem Vereinstreffen mit einem Mann ins Gespräch, der sich ihm gegenüber beklagte: »Ist es nicht schlimm, daß es heutzutage verboten ist, auch nur irgendwie anzuzweifeln, daß in Auschwitz Millionen von Juden umgebracht wurden?« Er halte es für »undenkbar«, fuhr er fort, daß so viele Leichen verbrannt worden seien. Und mit den Mengen von Gas, von denen immer die Rede sei, hätte man ja praktisch »alles Leben« in der näheren Umgebung auslöschen können.
Gröning widersprach diesen Äußerungen nicht. Doch er besorgte sich später eine Broschüre der Holocaust-Leugner, die ihm der Bekannte empfohlen hatte, versah sie mit einem ironischen Kommentar und schickte sie ihm zu. Daraufhin bekam er plötzlich merkwürdige Anrufe von Fremden, die ihn davon zu überzeugen versuchten, daß Auschwitz keineswegs das Zentrum von Massenvergasungen gewesen sei. Es stellte sich heraus, daß man seinen kritischen Kommentar in einem rechtsradikalen Blatt abgedruckt hatte. »90 Prozent« der Anrufe und teils anonymen Briefe, die er nun erhielt, stammten von »Leuten, die mir
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