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Auschwitz

Auschwitz

Titel: Auschwitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Rees
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einer Million Menschen zu verantworten hatte, am Ort seines Verbrechens hinzurichten. Doch am Tag der geplanten Vollstreckung kam es zu unvorhergesehenen Entwicklungen. Einige tausend Menschen, darunter ehemalige Lagerinsassen, hatten sich am Zaun vor der Hinrichtungsstätte versammelt, um dem Ereignis beizuwohnen. Allmählich heizte sich die Atmosphäre jedoch auf, und die Menge begann gegen den Holzzaun zu drücken. Der ehemalige Häftling Stanislaw Hantz 26 , der die Vorgänge beobachtete und Gesprächsfetzen aufschnappte, hatte den Eindruck, »daß sie Höß am liebsten gelyncht hätten.« Was würden die Wachposten unternehmen, wenn die Leute vorpreschten? Würden sie schießen? Als sich die Lage weiter zuspitzte, beschloß man, Höß nicht aus seiner Zelle zu holen, sondern die Situation mit Hilfe einer List zu entschärfen: Man zog die Wachposten ab. Dann verließ ein Wagen, von einer Militäreskorte begleitet, das Gelände, so daß man Höß in ihm vermuten mußte. Aber er wurde nicht fortgebracht; Höß blieb über Nacht in seiner Zelle und wurde am nächsten Morgen zur Hinrichtungsstätte geführt, wo ihn nur eine Handvoll Menschen erwarteten. »Als ich ihn die Stufen zum Galgen hinaufgehen sah, dachte ich, daß er als überzeugter Nazi noch ein paar markige Worte sagen würde,« erzählt Stanislaw Hantz, einer der wenigen Zeugen der Hinrichtung. »Ich glaubte, er würde sich zu den nationalsozialistischen Idealen bekennen, für die er in Tod ging. Aber nein. Er sagte kein Wort.«
    Höß hatte ein schnelles Ende. Hantz, der im Lager gefoltert worden war, hätte ihm einen weniger barmherzigen Tod gewünscht: »Ich finde, man hätte Höß in einen Käfig sperren und in ganz Europa herumfahren sollen, damit ihn jeder hätte sehen können, damit sie ihn alle hätten anspukken können, damit er endlich kapiert hätte, was er andern angetan hat.« Doch die interessante Frage ist: Hätte er je »kapiert«, was er anderen angetan hatte? Seine Autobiographie, die er kurz vor seiner Hinrichtung fertigstellte, läßt nur eine Antwort zu: Keine Demütigung, keine Mißhandlung der Welt hätte ihn dazu gebracht, in sich zu gehen und zu erkennen, daß er etwas Ungeheuerliches getan hatte. In seinen Lebenserinnerungen räumt er zwar ein, daß er »jetzt« erkenne, daß die Vernichtung der Juden ein Fehler gewesen sei, aber nur aus taktischen Gründen, da sich Deutschland damit den Haß der ganzen Welt zugezogen habe.
    Es gibt in Höß’ Autobiographie eine Stelle, die am ehesten deutlich macht, wie Höß (und einige ehemalige Nationalsozialisten, mit denen ich selbst gesprochen habe) am Ende wirklich dachte. Höß wiederholt in seinem Buch die Frage, die er auch in Nürnberg stellte: Was wäre mit einem Piloten geschehen, der sich geweigert hätte, Bomben über einer Stadt abzuwerfen, in der sich hauptsächlich Frauen und Kinder aufhielten? Er wäre natürlich vor ein Kriegsgericht gestellt worden, antwortet Höß. »Die Leute sagen, das könne man nicht vergleichen«, schreibt er. »Aber meiner Ansicht nach sind die beiden Situationen durchaus vergleichbar.« 27
    Im Grunde rechtfertigt Höß also seine Taten mit dem simplen Vergleich: Die Alliierten töten Frauen und Kinder durch Bomben, die Deutschen töten Frauen und Kinder durch Gas. Zu dieser Argumentation greifen auch heute noch viele ehemalige NS-Täter und Verteidiger des Dritten Reichs. Ein früherer SS-Angehöriger, der ein offizielles Interview mit mir ablehnte, behauptete in einem zwanglosen Gespräch sogar: »Die Kinder, die in unseren Gaskammern gestorben sind, haben weniger gelitten als die Kinder, die bei Ihren Brandbombeneinsätzen über deutschen Städten ums Leben kamen.« Oskar Gröning drückte es noch klarer aus: »Wir sahen, wie die Bomben auf Deutschland niedergingen und wie Frauen und Kinder im Feuersturm umkamen. Und da sagten wir uns: ›Dieser Krieg wird von beiden Seiten auf die gleiche Art geführt.‹ Der Holocaust war Teil unseres Kampfes gegen die Kriegshetzer, er war Teil unseres Ringens um Freiheit.« Gröning hält es für scheinheilig, nur die SS der Kriegsverbrechen anzuklagen, während die Alliierten »ohne Rücksicht darauf, ob es militärisch notwendig war, Frauen und Kinder umbrachten, indem sie Phosphorbomben auf sie warfen« und dafür nie zur Rechenschaft gezogen wurden.
    Die Gründe, weshalb die Bombardierung deutscher Städte und die Vernichtung der Juden nicht miteinander zu vergleichen sind, liegen auf der Hand. Man könnte

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