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Auschwitz

Auschwitz

Titel: Auschwitz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laurence Rees
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entwickeln. Einerseits wurden manche Häftlinge immer noch im Lager zugelassen, erhielten eine Nummer und mußten bestimmte Arbeiten verrichten. Auf der anderen Seite gab es eine Kategorie von Menschen, die innerhalb weniger Stunden oder gar Minuten nach ihrer Ankunft ermordet wurden. Es gab kein zweites nationalsozialistisches Lager, das diesen beiden Funktionen gleichzeitig gedient hätte. Es gab entweder Vernichtungslager wie Chełmno oder Konzentrationslager wie Dachau; aber es gab nur ein einziges Lager wie Auschwitz. 29
    Die Entwicklung dieser Doppelfunktion bedeutete, daß viele Häftlinge in Auschwitz von da an in einer Einrichtung lebten und arbeiteten, manche jahrelang, die gleichzeitig auch Menschen tötete, die gar nicht erst im Lager gelebt hatten. Für die nicht arbeitsfähigen Juden der Umgebung des Lagers bedeutete Auschwitz ein sofortiges Todesurteil; für die Polen, die im Lager von Anfang an überlebt hatten, war Auschwitz dagegen zu einer verqueren Art Heimat geworden. Józef Paczyński, der die Morde im Krematorium des Lagers beobachtet hatte, war seit nunmehr 20 Monaten Häftling in Auschwitz. Nur wenige von denen, die im Sommer 1940 hierhergekommen waren, hatten diese lange Zeit überlebt, wenn es ihnen nicht gelungen war, eine Arbeit in einem der Lagergebäude zu finden, »unter einem Dach«, und Paczyński war keine Ausnahme. Er hatte es geschafft, eine Anstellung im Friseursalon zu bekommen, wo er den SS-Männern die Haare schnitt. Das war eine vergleichsweise privilegierte Stellung, was man daran sehen konnte, daß er als einer der ganz wenigen Lagerhäftlinge in Berührung mit dem Lagerkommandanten persönlich kam: »Der Unterscharführer nahm mich in die Villa von Höß mit, und an der Tür stand dessen Frau. Ich hatte große Angst. Ich ging in den ersten Stock hinauf in das Badezimmer, und dort stand ein Stuhl. Höß kam und setzte sich darauf. Ich stand in Habachtstellung. Höß hatte eine Zigarre im Mund und las eine Zeitung. Ich machte denselben Haarschnitt, den ich an ihm schon zuvor gesehen hatte. Es war nicht besonders schwer. Höß redete kein Wort mit mir, und ich sagte ebenfalls nichts. Ich hatte Angst, und er verachtete die Häftlinge. Ich hatte ein Rasiermesser in der Hand. Ich hätte ihm die Kehle durchschneiden können – es wäre möglich gewesen. Aber ich gebrauche meinen Kopf zum Denken, und wissen Sie, was passiert wäre? Meine ganze Familie wäre vernichtet worden; das halbe Lager wäre vernichtet worden. Und seinen Platz hätte ein anderer eingenommen.«
    Während ein Mord an Höß furchtbare Konsequenzen für Józef Paczyński und seine Angehörigen gehabt hätte, waren kleinere Diebstähle, das »Organisieren«, überlebenswichtig. In seiner Baracke schlief Paczyński neben einem Freund, Stanislaw (Staszek) Dubiel, der den Garten der Familie Höß bearbeitete. »Und als ich neben Stasiu lag, sagte ich zu ihm: ›Können wir uns nicht ein paar Tomaten aus seinem Garten nehmen?‹ Und er sagte: ›Das geht.‹« Der Garten von Höß grenzte an das Krematorium, und es gab ein gelockertes Brett im Zaun. »Geh’ einfach hier durch in den Garten«, sagte Staszek zu Paczyński, »und du kannst dir Zwiebeln und Tomaten nehmen.«
    Am verabredeten Tag gelangte Paczyński durch das lockere Brett im Zaun in den Garten und fand dort Eimer mit Zwiebeln und Tomaten, die wie versprochen für ihn bereitgestellt worden waren. »Ich nahm sie und wollte gerade weggehen, als Höß’ Frau mit einer anderen Frau in den Garten kam. Also ging ich wieder zurück und verbarg mich im Gestrüpp. Als ich glaubte, sie seien wieder gegangen, kam ich heraus, aber sie standen immer noch auf einem Weg und unterhielten sich. Ich bückte mich und ging hinter ihnen her, in jeder Hand einen Eimer mit Zwiebeln und Tomaten. Und ich war [aus Angst] ganz naßgeschwitzt. Ich dachte: ›Das ist das Ende. Man hat mich beim Stehlen von Tomaten erwischt, und das ist mein Ende.‹ An diesem Abend warte ich darauf, daß sie mich in den Block 11 bringen, doch niemand rief meinen Namen auf. Staszek kam von der Arbeit zurück und sagte: ›Mach dir keine Sorgen. Die Frau von Höß hat mir alles erzählt, und ich sagte ihr, ich hätte dir alles gegeben.‹«
    Das Abenteuer von Józef Paczyński und seinem Freund in Höß’ Garten ist lehrreich, nicht zuletzt weil es wichtige Aspekte der sich entwickelnden Beziehung zwischen den Deutschen und den bevorzugten Häftlingen verdeutlicht. Als Paczyńskis Freund der Frau

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