Auschwitz
13. Juli 1942. Im Ghetto gab es einen kleinen schwarzen Wagen mit einem grauen Pferd, der jeden Morgen durch die Straßen fuhr und die Toten aufsammelte, und jetzt auch meine Mutter. Und es verging über eine Woche, was gegen den jüdischen Brauch ist, weil man Tote gleich am nächsten Tag beerdigt, und meine Schwester und ich machten uns auf die Suche nach einer freien Grabstelle [auf dem Friedhof], wo wir ein Grab aushoben, und dort brachten wir sie hin. Es gab keine Särge; es gab lediglich zwei Bretter und einen Strick, der alles zusammenhielt. Und wir mußten sie in einem großen Haus neben dem Friedhof suchen, in dem man nichts als Leichen sah, unbestattete Leichen. Und wir begruben sie und stellten eine kleine hölzerne Gedenktafel auf das Grab, die natürlich bald darauf verschwand. Ich habe 50 Jahre später versucht, das Grab wiederzufinden, aber ich konnte es nicht mehr finden.«
Lucille Eichengreen und ihre jüngere Schwester waren jetzt allein im Ghetto; zwei Waisen, die sich durchschlagen mußten, so gut sie konnten. »Wir empfanden nichts«, sagt sie. »Wir sprachen kein Gebet, wir haben nicht geweint – wir waren abgestumpft, es gab keine Gefühle mehr. Wir gingen zurück in dieses Zimmer, in dieses möblierte Zimmer zu den übrigen Mitbewohnern, und meine Schwester hörte praktisch auf zu reden. Sie sagte einfach nichts mehr. Sie war sehr intelligent, sie war großgewachsen und sehr hübsch, aber es gab nichts mehr zu sagen. Sie war ganz und gar verlassen, und meine Mutter hatte mir das Versprechen abgenommen, daß ich mich um sie kümmern würde – und ich konnte nichts tun. Ich habe alles versucht, aber es war vergeblich.«
Zwei Monate später kamen die Deutschen selbst in das Ghetto, um die Selektionen durchzuführen, und suchten alle aus, die nicht mehr arbeiten konnten: die Alten, Kranken und die ganz Jungen. Mordechai Rumkowski, der Vorsitzende des Ältestenrats in der Stadt, forderte die Mütter im Ghetto auf, zu kooperieren und ihre Kinder den Deutschen auszuliefern. »›Übergebt eure Kinder, so daß wir übrigen leben können‹, [sagte er]. Ich war siebzehn, als ich diese Rede hörte«, sagt Lucille. »Ich konnte nicht verstehen, wie jemand von Eltern ihre Kinder verlangen konnte. Ich kann es bis heute nicht verstehen. Die Menschen fragten empört: ›Wie können Sie das von uns verlangen? Wie könnten wir das tun?‹ Doch er sagte: ›Wenn wir es nicht tun, wird es nur noch schlimmer werden.‹«
Lucille tat alles, was in ihren Kräften stand, um zu verhindern, daß ihre Schwester deportiert wurde: Sie schminkte sie und redete ihr zu, einen kräftigen und gesunden Eindruck zu erwecken. Sie hatte eine gewisse Hoffnung; sie dachte, ihre Schwester könnte sicher sein, weil sie zwölf Jahre alt war und das Höchstalter für die Selektion elf Jahre betrug. Doch als die Deutschen kamen, nahmen sie ihre Schwester trotzdem mit: »Sie haben meine Schwester mitgenommen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich versuchte, mit ihr zusammen auf den Lastwagen zu kommen, wurde aber von einem Gewehrlauf daran gehindert, und diese Menschen wurden weggefahren.« Selbst als sie verzweifelt hinterhersah, wie ihre junge Schwester weggebracht wurde, hatte Lucille keine Ahnung, daß man sie an einen Ort fahren würde, an dem sie sogleich ermordet wurde. »Es ist uns nie eingefallen, darüber nachzudenken, was sie mit einem so jungen oder einem sehr alten Menschen vorhatten, der nicht arbeiten konnte. Auf diese eine Idee wären wir nie gekommen. Wir nahmen einfach an, daß sie am Leben bleiben würden.«
Nunmehr ganz allein und völlig verzweifelt, zwang Lucille sich dennoch dazu, im Ghetto weiter nach einer Arbeit zu suchen. Als sie schließlich ihre erste Stelle fand, verdankte sie diesen Glücksfall bezeichnenderweise einer der wenigen »Verbindungen«, die sie hatte – einem deutschen Juden aus Hamburg. Er hatte Rumkowski überzeugt, daß das Ghetto »Verbesserungen« benötigte wie Grünanlagen und offene Räume, und Lucille erarbeitete mit ihm zusammen die Pläne. Nach einigen Monaten schloß Rumkowski dieses Büro, doch Lucille hatte inzwischen wertvolle Kontakte geknüpft. Eine neue Bekannte aus Wien arbeitete in einer der Verwaltungsabteilungen im selben Gebäude, und durch ihre Vermittlung fand sie eine neue Stelle: Sie füllte Anträge auf Kohlenlieferungen für den nächsten Winter aus, die bei den Deutschen eingereicht werden mußten. Das Leben im Ghetto war für Lucille eine harte Schule: »Man
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