Auschwitz
daß die Uneingeweihten einen Verdacht schöpfen würden, falls sie es zu Gesicht bekämen. Trotz alledem ist es der deutlichste Beleg für die Planungen der SS im Hinblick auf die »Endlösung« und der überzeugendste Beweis für die weitreichende staatliche Mittäterschaft an den Morden, die folgen sollten.
Aber bedeutet das auch, daß die Wannseekonferenz ihren Ort im Gedächtnis als die wichtigste Zusammenkunft in der Geschichte des Verbrechens verdient? Diese Frage muß man verneinen. Die falsche Vorstellung von der herausgehobenen Rolle der Wannseekonferenz im allgemeinen Bewußtsein beruht auf der Überzeugung, auf dieser Konferenz sei die »Endlösung der Judenfrage« beschlossen worden. Das war jedoch nicht der Fall. Es war zweifellos eine wichtige Veranstaltung, doch in ihr ging es hauptsächlich um die Bekanntgabe eines Vernichtungsprozesses an einzelne Ministerien, der bereits andernorts zu einer beschlossenen Sache gemacht worden war.
Die Diskussionen in der Villa am Wannsee hatten keine unmittelbare Auswirkung auf Auschwitz. Die Baupläne für Birkenau wurden nicht von heute auf morgen in der Weise geändert, daß neue Gaskammern vorgesehen worden wären, und im Januar wurde das Lager nicht wesentlich anders genutzt als bisher. Seit dem Frühherbst 1941 wurden jedoch die Vergasungsexperimente mit Zyklon B in Auschwitz nicht mehr in Block 11, sondern im Lagerkrematorium durchgeführt, nur wenige Meter entfernt von Höß’ Büro und der Hauptverwaltung. Das löste ein Problem für die Lagerleitung – die Leichen von Block 11 mußten nicht mehr durch das gesamte Lager auf Rollwagen zum Krematorium gefahren werden, um sie dort zu verbrennen –, doch es schuf dafür ein neues, da die Morde jetzt nicht mehr im Keller des Gefängnisblocks geschahen, sondern in einem exponierteren oberirdischen Bereich: in der Leichenhalle neben den Verbrennungsöfen des Krematoriums.
Anfang 1942 beobachtete Jerzy Bielecki die Ankunft von sowjetischen Kriegsgefangenen, die im Krematorium vergast werden sollten: »Eines Nachts hörte ich draußen ein eigenartiges Geräusch und sagte: ›Leute, was ist da los? Das müssen wir uns ansehen.‹ Wir gingen zum Fenster [unserer Baracke] und hörten Schreie und Stöhnen, und man sah eine Gruppe von Männern, die splitternackt zum Krematorium rannten. Wir sahen auch SS-Männer mit Maschinengewehren rennen. Wir konnten das alles im Licht der Lampen vor dem Stacheldraht sehen. Es fiel Schnee, und es war eisigkalt, vielleicht 15 oder 20 Grad unter Null. Alle stöhnten und schrien wegen der Kälte. Es war ein unglaubliches Geräusch. So etwas hatte ich noch nie gehört. Nackt gingen sie in die Gaskammer. Es war ein teuflisches, schauerliches Bild.«
Aber es waren nicht nur sowjetische Kriegsgefangene und arbeitsunfähige Lagerhäftlinge, die auf diese entsetzliche Art umgebracht wurden. Auch eine kleine Zahl von Juden aus der oberschlesischen Umgebung, die keine schwere Arbeit verrichten konnten, wurde in die Gaskammer geschickt. Es gibt keine Lagerunterlagen, aus denen die Daten hervorgingen, wann diese Morde geschahen, doch die Aussagen von Augenzeugen lassen vermuten, daß im Herbst 1941 einige Vergasungen durchgeführt wurden. Hans Stark, ein SS-Mann, der in Auschwitz arbeitete, machte die folgende Aussage: »Bei einer späteren Vergasung – ebenfalls noch im Herbst 1941 – erhielt ich von Grabner den Befehl, Zyklon B in die Öffnung zu schütten, weil nur 1 Sanitäter gekommen war und bei einer Vergasung in beide Öffnungen des Vergasungsraumes Zyklon B zu gleicher Zeit hineingeschüttet werden mußte. Es handelte sich bei dieser Vergasung wiederum um einen Transport von 200 bis 250 Juden, und zwar wiederum Männer, Frauen und Kinder. Da dieses Zyklon B – wie bereits erwähnt – körnerförmig war, rieselte dieses beim Hineinschütten über die Menschen. Sie fingen dann furchtbar an zu schreien, denn sie wußten nun, was mit ihnen geschieht. In die Öffnung habe ich nicht geschaut, da nach dem Einschütten des Zyklon B die Öffnungen sofort verschlossen werden mußten. Nach wenigen Minuten war es still. Nach Verlauf einer Zeit, es können 10–15 Minuten gewesen sein, wurde der Vergasungsraum geöffnet. Die Getöteten lagen kreuz und quer durcheinander, es war ein schrecklicher Anblick.« 24
Auch in den Wochen nach der Wannseekonferenz gingen die Vergasungen »arbeitsunfähiger« Juden aus der Umgebung von Auschwitz weiter. Józef Paczyński, ein Auschwitzhäftling, der
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