Auschwitz
zur Folge. Eine der vielen unbeantworteten Fragen der Geschichte lautet deshalb, wie die Beratungen der Teilnehmer verlaufen wären, wenn die Veranstaltung zum ursprünglich geplanten Zeitpunkt stattgefunden hätte. Zweifellos hatte bereits da die Absicht bestanden, die »Judenfrage« letztlich mit einem Völkermord zu »lösen«, doch möglicherweise wäre es in der Diskussion eher um eine Nachkriegslösung oder um den ernsthaften Versuch gegangen, für die in den Osten deportierten Juden Arbeitslager zu errichten. Darüber können wir nur Vermutungen anstellen. Fest steht jedenfalls, daß unabhängig vom Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg die Wannseekonferenz für Himmler und Heydrich eine wichtige Veranstaltung war. Beide verfolgten vor allem das Ziel, diese Mordaktionen zu koordinieren und klarzustellen, daß allein die SS für den gesamten Deportationsprozeß zuständig war.
Die auf der Wannseekonferenz erörterten Fragen sind uns heute hauptsächlich deshalb bekannt, weil eine Kopie des von Obersturmbannführer Adolf Eichmann, dem »Judenreferenten« Heydrich, erstellten Protokolls nach dem Krieg aufgefunden wurde. Dieses Protokoll ist von großer Bedeutung, weil es eines der ganz wenigen Dokumente ist, die ein Licht auf die Überlegungen hinter der »Endlösung der Judenfrage« werfen.
Zum Auftakt der Besprechung wies Heydrich noch einmal auf seine »Bestellung zum Beauftragten für die Vorbereitung der Endlösung der europäischen Judenfrage« durch Göring hin, die seinen Vorsitz bei der Konferenz legitimierte. Danach gab er die formelle Änderung der NS-Politik bekannt, die zweifellos allen Anwesenden bereits bekannt war: »Anstelle der Auswanderung ist nunmehr … die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten … Im Zuge dieser Endlösung … kommen rund 11 Millionen Juden in Betracht«, eine Zahl, in der auch mehrere Millionen Juden inbegriffen waren, die sich noch nicht im Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten befanden, wie etwa Irland und England. Nach ihrer Deportation in den Osten sollten dort »die Juden in geeigneter Weise … zum Arbeitseinsatz kommen … Unter Trennung der Geschlechter werden die arbeitsfähigen Juden straßenbauend in diese Gebiete geführt.« (Dabei dachte Heydrich wahrscheinlich an Projekte wie die Durchgangsstraße IV, eine Straßen- und Eisenbahnverbindung vom Reich bis an die Ostfront, an der bereits gearbeitet wurde.) In dem Protokoll steht nichts über das weitere Schicksal der arbeitsunfähigen Juden, doch kann man als sicher annehmen, daß sie sofort ermordet werden sollten. Heydrich war zuversichtlich, daß beim Straßenbau »ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird«. Schließlich ging Heydrich auf jene Juden ein, die auch noch die härtesten Strapazen überleben sollten: »Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird entsprechend behandelt werden müssen, da dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzusprechen ist.« Für die Teilnehmer stand anscheinend außer Frage, was mit »entsprechend behandelt« gemeint war. 23
Bezeichnenderweise gab es auf der Konferenz keine Meinungsverschiedenheiten über die grundsätzliche Absicht, die Juden umzubringen. Statt dessen drehte sich die Debatte zu einem großen Teil um die exakte juristische Definition, wer als »Jude« zu gelten hatte und damit deportiert werden mußte und wer nicht. Die Frage, was mit den »Halbjuden« geschehen sollte, löste wohl einen lebhaften Meinungsaustausch aus. Man regte an, diese Menschen zu sterilisieren oder sie vor die Wahl zu stellen, sich sterilisieren zu lassen oder deportiert zu werden. Jemand schlug vor, sie in ein spezielles Ghetto zu schicken – nach Theresienstadt, der tschechischen Stadt Terezin –, wo sie zusammen mit jüdischen Schwerkriegsbeschädigten, jüdischen Trägern von Kriegsauszeichnungen und älteren Juden ab 65 Jahren untergebracht würden, deren sofortige Deportation bei der einfachen deutschen Bevölkerung Unruhe auslösen könnte.
Das Protokoll der Wannseekonferenz ist mit Absicht sehr unbestimmt gehalten. Eichmanns erster Entwurf wurde mehrfach von Heydrich und Gestapochef Heinrich Müller überarbeitet. Da es einem größeren Personenkreis zugänglich gemacht werden sollte, mußte es in einer Tarnsprache gehalten sein: Wem der Kontext geläufig war, der würde genau verstehen, um was es ging, während die verschleiernde Sprache verhinderte,
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