Auschwitz
Er hatte eine zahnmedizinische Ausbildung. Seine Geschichte verdeutlicht, mit welcher Menschenverachtung die Nationalsozialisten die Juden vor und sogar nach ihrem Tod ausbeuteten.
Dank seiner zahnmedizinischen Kenntnisse durfte Benjamin Jacobs seine Mitgefangenen und später sogar führende SS-Leute behandeln: »Ich kümmerte mich um SS-Führer, Ärzte und andere hohe Tiere im Lager, und sie waren wirklich hilfsbereit. Wenn sie zu mir kamen, waren sie richtig nett. Meistens brachten sie etwas Brot oder Wodka mit. Sie ließen die Sachen einfach da. Sie schenkten sie mir nicht ausdrücklich, sondern ließen sie ›aus Versehen‹ auf dem Stuhl liegen. Und so kam ich an besseres Essen … Ich hatte wirklich das Gefühl, daß sie mich besser behandelten. Und das machte mich stolz. Ich war schon in einer ziemlich privilegierten Position.« Nur »einmal« habe ihm seine Aufgabe als Lagerzahnarzt »zu schaffen« gemacht, sagt Benjamin Jacobs. Man habe ihm befohlen, toten Lagerinsassen die Goldzähne zu entfernen. Er mußte in einen Raum gehen, in dem die Leichen der Häftlinge lagen, die während der Arbeit erschossen worden oder im Bergwerk umgekommen waren. Dort habe er »Unglaubliches« zu Gesicht bekommen, berichtet Benjamin Jacobs. Die Toten hätten »grotesk« ausgesehen. Er mußte sich dicht neben die Leichen knien und ihnen »mit Gewalt den Mund öffnen«. Jedesmal, wenn er ihnen mit einem speziellen Instrument Ober- und Unterkiefer auseinanderdrückte, gab es ein »knackendes Geräusch«. Sobald Jacobs den geöffneten Mund des Toten fixiert hatte, zog er die Goldzähne: »Das war wirklich nichts, worauf ich stolz sein könnte. Aber ich war damals völlig gefühllos. Ich wollte überleben. Auch wenn dieses Leben nicht gerade angenehm war, hat man sich doch daran geklammert.«
Das Gold aus den Zähnen der toten Arbeiter wurden eingeschmolzen und zu Schmuck weiterverarbeitet – ein Prozeß, der eine Vorstellung vom »Nützlichkeitsdenken« in Auschwitz vermittelt: Nichts, was den Häftlingen persönlich gehörte, war zu intim, um nicht irgendeiner weiteren Verwendung zugeführt zu werden. Von diesem Prinzip zeugten auch die als »Kanada« bezeichneten Sortierbaracken im Stammlager Auschwitz und in Auschwitz-Birkenau. Linda Breder 8 war 19 Jahre alt, als sie 1943 zum erstenmal in »Kanada« im Stammlager arbeitete. Sie war im Jahr zuvor mit einem der ersten Frauentransporte aus der Slowakei nach Auschwitz gekommen. Nachdem sie anfangs in einem Landwirtschaftskommando schwere Feldarbeit verrichten mußte, wurde sie später in die Sortierbaracken versetzt. Dort wurde die persönliche Habe, die man den Neuankömmlingen abgenommen hatte, gesichtet und sortiert: »Die Arbeit in ›Kanada‹ hat mir tatsächlich das Leben gerettet, denn dort hatten wir zu essen, bekamen Wasser und durften sogar duschen.« Die Aufgabe, die man Linda Breder zugeteilt hatte, war vielleicht weniger grausig als die von Benjamin Jacobs, aber in beiden Fällen ging es um das gleiche Prinzip: die größtmögliche wirtschaftliche Ausnutzung jener, die man vernichtete. »Alles, was die Ermordeten bei sich hatten, wurde in Auschwitz gesammelt. Wir mußten die Kleider nicht nur zusammenlegen, sondern auch nach Wertsachen durchsuchen. Jedes Teil mußte untersucht werden – auch die Unterwäsche, alles. Und wir fanden jede Menge Juwelen, Gold, Münzen, Dollars – Geld aus ganz Europa. Wenn wir etwas fanden, mußten wir es in eine Holzkiste tun, die in der Mitte der Baracke stand und oben einen Schlitz hatte … Außer uns wußte niemand etwas von den ganzen Kostbarkeiten und den Kleidern, die dort ankamen. Nur wir. Wir waren ungefähr 600 Mädchen, die dort arbeiteten.«
Die Linie der Lagerleitung von Auschwitz – wie auch der SS im gesamten Reich – war klar: Alle Wertgegenstände, die man den Neuankömmlingen abgenommen hatte, waren Eigentum des Reichs. Doch die Praxis sah ganz anders aus. Da weder die Gefangenen noch die SS den Versuchungen »Kanadas« widerstehen konnten, wurde regelmäßig gestohlen: »Wir konnten immer etwas Kleidung herausschmuggeln«, erzählt Linda Breder. »Schuhe, Höschen, Unterwäsche – wir verschenkten die ganzen Sachen, weil wir sie selbst nicht brauchten.« Und da Linda Breder und die anderen Arbeiterinnen unter dem fremden Eigentum auch versteckte Lebensmittel fanden, konnten sie sich besser ernähren als beinah jede andere jüdische Häftlingsgruppe in Auschwitz. »Natürlich haben wir die Lebensmittel
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